Die Grenzen unserer Wünsche
Eine Fallbeispiel
Eine Frau berichtet von ihrer Geburt: “Es war für meine Mutter sehr schwierig. Sie hatte einen Nierenstein und die Niere infizierte sich schwer. Damals waren die diagnostischen Möglichkeiten auch nicht so gut. Auf jeden Fall war meine Mutter die ersten drei Wochen nach meiner Geburt im Krankenhaus. Eine Niere musste entfernt werden. Ich weiß nicht, wo ich in dieser Zeit war, aber vermutlich auf der Babystation im Krankenhaus. Meine Mutter sagte mir, dass sie in dieser Zeit keinen Kontakt zu mir hatte. Sie wurde dann sehr schnell wieder schwanger, nach drei Monaten. Aber sie hat das Kind auf Rat der Ärzte abgetrieben. Sie haben ihr gesagt, dass es überhaupt nicht gut sei, wenn sie nochmal ein Kind bekommt. Daher bin ich Einzelkind geblieben, obwohl sich meine Eltern nach ihren Aussagen immer mehrere Kinder gewünscht haben.”
Die Frau ist über ihre aktuelle Situation unglücklich. Sie ist jetzt Ende Dreißig hat ein Kind und wünscht sich ein zweites sehr. Aber schon die Zeugung und Geburt des ersten war ausgesprochen schwierig und aller Versuche zum Trotz hat es mit der zweiten Schwangerschaft bisher nicht geklappt. Ihre Ehe leidet darunter.
Dem ersten Anschein nach kann die Frau dennoch mit ihrem Leben zufrieden sein. Sie hat sich — wie man so sagt — “aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet”. Sie ist Ärztin, sie ist verheiratet und hat ein gesundes Kind, sie hat Freunde. Es scheint ihr an nichts zu mangeln — außer eben, dass es mit dem zweiten Kind nicht klappt. Wahrscheinlich würde manch einer diese Frau mit ihrem Beruf und ihrer Familie beneiden.
Bei genauer Betrachtung fallen erstaunliche Bezüge ihres jetzigen Lebens zu ihrer frühen Kindheitsgeschichte auf:
Sie arbeitet als Urologin in einem Krankenhaus und kümmert sich unter anderem um werdende Mütter mit Nierenproblemen. Nach eigener Aussage hilft sie ihnen in Situationen, in der ihrer Mutter damals nicht gut geholfen werden konnte. Für sie gäbe es jetzt auch keinen Grund, dass solch eine Mutter nicht noch ein zweites Kind bekäme.
In der Schwangerschaft mit dem ersten Kind entwickelte sich bei ihr ein HELLP-Syndrom. Das ist eine Bluterkrankung, von der die Leber betroffen ist. Auch die Niere kann betroffen sein und die Erkranung stellt durchaus eine Gefahr für Mutter und Kind dar. Sie hatte mehrere Wochen Schmerzen, die nicht richtig behandelt werden konnten, um das Kind nicht zu gefährden. Erst nach der Geburt des Kindes wurde sie intensiv behandelt. Das Kind wurde sehr früh geholt (unter 1000 g) und war längere Zeit auf der Intensivstation. Der Vater war in dieser Zeit bei dem Kind im Krankenhaus.
Sie möchte unbedingt ein zweites Kind, ein Geschwister für ihr erstes — das, was sie selbst nicht hatte (abgetrieben, verhindert). Es ist so, als wolle sie die Wunde von damals heilen. Aber es klappt einfach nicht. Die Frau weint herzzerreißend als sie das erzählt.
Das Schicksal dieser Frau ist beispielhaft. Sie führt ein gutes Leben. Sie ist recht erfolgreich und von außen betrachtet sind sie und ihre Familie vollkommen normal. Es gibt keine materielle Not und “es läuft” scheinbar. Zugleich müssen wir bei genauerem Hinsehen erkennen, dass ihre beruflichen Entscheidungen und ihre persönlichen Wünsche und Erwartungen mit ihrem frühen Schicksal zusammenhängen. Das geht bis in Zeiten zurück, an die sie sich selbst gar nicht bewusst erinnern kann. Ihre Lebensentscheidungen lassen sich als ein unbewusster Versuch verstehen, frühe seelische Wunden zu heilen.
Natürlich erwirbt sie sich Kompetenzen und ist in ihrem Weg erfolgreich. Aber die frühen Wunden heilen dennoch nicht. Bestenfalls werden sie überdeckt. Bei dieser Frau bricht die Problematik durch den unerfüllten Wunsch nach einem zweiten Kind auf und bringt ihr Leben aus dem Gleichgewicht.
Wünsche können sich also durchaus erfüllen. Wir können ein gutes Leben, frei von materiellen Sorgen erreichen, unseren Traumberuf ergreifen, Partnerschaften eingehen (oder auch nicht), Familien gründen (oder auch nicht). Manches hängt von den gebotenen Möglichkeiten und manchmal auch von Zufällen ab. Aber möglich ist viel. Dennoch heilen die Wunden in unseren Seelen nicht. Und auch wenn das Schicksal dieser Frau ihr eigenes, ganz individuelles Schicksal ist, so habe ich doch noch nie einen Menschen ohne Wunden in der Seele kennengelernt. Jede Kindheit kennt ähnliche Erlebnisse. Manchmal geschahen sie so früh, dass sie dem Bewusstsein nicht zugänglich sind. Für manche Menschen sind sie so unangenehm, schmerzhaft und vielleicht auch schambesetzt, dass sie sie lieber verdrängen. Aber die Wunden sind dennoch da — immer.
Und sie sind nicht heilbar. Alle Versuche der Selbstheilung — und als solche lassen sich die allermeisten Lebenswege verstehen — können an dieser Tatsache nichts ändern. Gerade deswegen ist es gut, wenn sich die Frau ihre Geschichte aneignet und besser versteht, warum sie so und nicht anders empfindet. So wird es ihr möglich, ihr Schicksal anzunehmen und die guten Möglichkeiten, die sie in ihrem Leben hat, zu nutzen und zu würdigen, ohne auf etwas zu hoffen, was eine Illusion ist.
Das ist das Plädoyer des Buchs »Ist Gott noch zu retten?«.
Matthias Stiehler
Ist Gott noch zu retten?
Woran wir glauben können
Verlag tredition Hamburg 2016