Dr. Matthias Stiehler

Die Grenze zwischen Tätern und Nichttätern

Ich bin zu einem Tref­fen des Netz­werks Jun­gen- und Män­ner­ge­sund­heit in Wei­mar. Wir besu­chen das ehe­ma­li­ge KZ Buchen­wald. Ich bin seit lan­ger Zeit wie­der ein­mal auf die­sem Gelän­de. Wir lau­fen durch das berühmt-berüch­tig­te Tor, gehen über das Gelän­de, besu­chen die Aus­stel­lung des Grau­ens, sehen uns das Kre­ma­to­ri­um, die Patho­lo­gie, den Erschie­ßungs­raum an. Es ist schreck­lich und die Wucht des Fühl­ba­ren ist kaum zu ertra­gen. Was muss­ten Men­schen hier erlei­den, wie­viel Zer­stö­rung von Lebens­hoff­nun­gen und Tod hat es hier in den Jah­ren von 1937 bis 1945 und dann auch noch zwi­schen 1945 und 1950 gegeben?

Doch so sehr ich in mei­nen Emp­fin­dun­gen bei den Opfern bin, so sehr fra­ge ich mich, ob ich damals nicht auch bei den Tätern mit­ge­macht oder ob ich in irgend­ei­ner Wei­se Wider­stand geleis­tet hät­te. Natür­lich wün­sche ich mir, ich hät­te Wider­stand geleis­tet. Aber kann ich mir sicher sein? Ich bin ein deut­scher, hete­ro­se­xu­el­ler, nicht­jü­di­scher Mann. Ich habe bei mei­nen Über­le­gun­gen kei­ne Mög­lich­keit, mich über mei­ne Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit den Opfern zuge­hö­rig zu füh­len und mich von den Tätern ein­fach abzu­gren­zen. Die­se Mög­lich­keit habe ich nicht, auch wenn mir beim Gang durch das ehe­ma­li­ge KZ-Gelän­de vor allem das Leid der Opfer nahe ist.

Ich weiß, dass ich — wie ver­mut­lich jeder Mensch — auch zu einem Täter wer­den kann. Ich habe in zahl­rei­chen the­ra­peu­ti­schen Situa­tio­nen erlebt, wie an sich fried­li­che Men­schen einen mör­de­ri­schen Hass in sich auf­kom­men fühl­ten, wenn sie emo­tio­na­len Kon­takt zu ihren see­li­schen Ver­let­zun­gen beka­men. Bis­her habe ich jeden­falls noch kei­nen Men­schen ken­nen­ge­lernt (also wenn ich im per­sön­li­chen oder beruf­li­chen Kon­text unter sei­ne Ober­flä­che geschaut habe), der kei­ne sol­che Ver­let­zun­gen in sich trägt. Wut und Schmerz sind unse­ren erwach­se­nen See­len imma­nent. Es ist anzu­neh­men, dass jeder Mensch — nicht nur deut­sche, nicht nur männ­li­che, nicht nur wei­ße — in der Lage sind, furcht­ba­re Ver­bre­chen an ande­ren Men­schen zu bege­hen. Im Poten­zi­al gibt es kei­ne grund­sätz­li­che Trenn­li­nie zwi­schen Tätern und Nichttätern.

Das eigent­lich Ent­schei­den­de, war­um man­che zu Tätern wer­den und man­che nicht, liegt im Emp­fin­den gegen­über dem eige­nen ver­bre­che­ri­schen Tun. Um Täter wer­den zu kön­nen, braucht es zwei Bedin­gun­gen, die sich auf die Ver­let­zun­gen der See­le legen.

Die ers­te und ent­schei­dends­te ist die Leug­nung des eige­nen Hass­po­ten­zi­als. Wer kei­nen Kon­takt zu sei­nen See­len­ver­let­zun­gen hat bzw. her­stellt, ist grund­sätz­lich anfäl­li­ger, den eige­nen Hass zu exter­na­li­sie­ren und an ande­ren Men­schen aus­zu­le­ben, die so zu unse­ren Sün­den­bö­cken wer­den. Das eige­ne Pro­blem wird beim ande­ren gese­hen und die eige­ne ver­letz­te See­le schein­bar nicht mehr gespürt. Es gibt Men­schen, die auf­grund ihrer frü­hen Lebens­ge­schich­te gar nicht in der Lage sind, auch nur gering­fü­gig Empa­thie mit einem lei­den­den Men­schen zu ent­wi­ckeln. Die meis­ten Men­schen aber kön­nen das sehr wohl. Sie weh­ren ihr mög­li­ches Mit­emp­fin­den aktiv — wenn auch zumeist nicht bewusst — ab.

Die zwei­te Bedin­gung ist, dass die Hem­mun­gen fal­len, den Hass aus­zu­le­ben. Das kann bei­spiels­wei­se ein plötz­li­cher emo­tio­na­ler Flash sein. Es kann sich aber auch um die mora­li­schen Wer­tun­gen einer Grup­pe (Peer­group, Bevöl­ke­rungs­grup­pe, Gesell­schaft) han­deln, die das Töten oder die Unter­drü­ckung ande­rer Men­schen legi­ti­mie­ren und damit die Hem­mun­gen abbau­en. Das akti­ve Mor­den gro­ßer Tei­le der deut­schen Bevöl­ke­rung und auch das Still­hal­ten gegen­über den Ver­bre­chen in der Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus geschah sicher auch aus Angst, vor allem aber durch den Abbau von Hem­mun­gen. Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger und mas­sen­haf­te Grau­sam­kei­ten an Men­schen wur­den nor­mal. Dadurch war es mög­lich, dass mit den Jah­ren eine Tötungs­ma­schi­ne­rie ent­stand, die ins­be­son­de­re bei der mil­lio­nen­fa­chen Ermor­dung von Juden plan­mä­ßig und gefühl­los vorging.

Die Abwehr des eige­nen Hass­po­ten­zi­als und der Abbau von Hem­mun­gen und Scham waren die Ursa­che, dass in einem an sich zivi­li­sier­ten Land unvor­stell­ba­re Ver­bre­chen ver­übt wur­den. Und ich glau­be, dass das in jedem ande­ren Land und auch im heu­ti­gen und künf­ti­gen Deutsch­land immer wie­der gescha­hen kann. Eine erfolg­rei­che Abwehr ist nur dadurch mög­lich, sich den bei­den beschrie­be­nen Bedin­gun­gen gesell­schaft­lich wie im eige­nen Leben entgegenzustellen.

Mat­thi­as Stieh­ler
Ist Gott noch zu ret­ten?
Wor­an wir glau­ben können

Ver­lag tre­di­ti­on Ham­burg 2016

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