Dr. Matthias Stiehler

Verstehst du, wozu solche Sinnlosigkeit da ist?”

Fjodor Michailowitsch Dostojewski: Die Gebrüder Karamasow
aus dem 5. Buch, Kapitel 4



“Ach übri­gens”, fuhr Iwan Fjo­do­ro­witsch fort, als hät­te er die Wor­te sei­nes Bru­ders gar nicht gehört, “unlängst hat mir ein Bul­ga­re in Mos­kau erzählt, was für Gräu­el­ta­ten die Tür­ken und Tscher­kes­sen aus Furcht vor einem all­ge­mei­nen Auf­stand der Sla­wen über­all in Bul­ga­ri­en ver­üben. Sie sen­gen und bren­nen, mor­den, ver­ge­wal­ti­gen Frau­en und Kin­der, nageln Gefan­ge­ne mit den Ohren an Zäu­ne und las­sen sie so die Nacht über­ste­hen, um sie dann auf­zu­hän­gen, und so wei­ter. Vie­les davon kann man sich über­haupt nicht vor­stel­len. Man spricht mit­un­ter von der ‘bes­tia­li­schen’ Grau­sam­keit eines Men­schen — aber das ist den Bes­ti­en gegen­über eine arge Unge­rech­tig­keit und Belei­di­gung. Eine Bes­tie kann nie so grau­sam sein wie der Mensch, auf so raf­fi­nier­te, kunst­vol­le Art grau­sam. Der Tiger beißt ein­fach zu und zer­reißt, wei­ter kann er nichts. Es wür­de ihm gar nicht in den Sinn kom­men, Men­schen über Nacht an den Ohren fest­zu­na­geln, selbst wenn er das könn­te. Die­se Tür­ken haben unter ande­rem auch Kin­der gera­de­zu wol­lüs­tig gefol­tert. So haben sie mit ihren Dol­chen Unge­bo­re­ne aus dem Mut­ter­leib geschnit­ten und Säug­lin­ge vor den Augen der Müt­ter in die Höhe gewor­fen, und mit den Bajo­net­ten auf­ge­fan­gen. Dass dies vor den Augen der Müt­ter geschah, war die beson­de­re Wür­ze des Ver­gnü­gens. Und nun will ich dir eine klei­ne Geschich­te erzäh­len, die mir beson­ders inter­es­sant war. Stell dir vor: Ein klei­nes Kind auf dem Arm der vor Angst zit­tern­den Mut­ter, rings­her­um Tür­ken, die in das Haus ein­ge­drun­gen sind. Sie haben sich ein Späß­chen aus­ge­dacht. Lieb­ko­sen das Kind­chen, lachen, um es zum Lachen zu brin­gen, es gelingt ihnen, das Kind ist ganz ver­gnügt. In die­sem Augen­blick zielt ein Tür­ke mit der Pis­to­le auf das Klei­ne, eine Span­ne weit von sei­nem Gesicht. Das Klei­ne lacht fröh­lich und streckt die Ärm­chen aus, um nach der Pis­to­le zu grei­fen. Und plötz­lich drückt der Witz­bold ab, schießt ihm mit­ten ins Gesicht und zer­schmet­tert ihm das Köpf­chen … Kunst­voll, nicht wahr? Die Tür­ken sol­len übri­gens gro­ße Freun­de von Süßig­kei­ten sein.” 

“Bru­der, wozu erzählst du das alles?” frag­te Aljoscha. 

“… Du fragst eben, wozu ich das alles erzäh­le: Siehst du, ich bin ein Lieb­ha­ber und Samm­ler gewis­ser Tat­sa­chen und schrei­be mir aus Zei­tun­gen und ande­ren Quel­len, wo ich gera­de etwas fin­de, bestimm­te Geschicht­chen her­aus und samm­le sie; ich habe bereits eine hüb­sche Kol­lek­ti­on … Doch ich habe über Kin­der noch bes­se­re Geschicht­chen. Ich habe über Kin­der sehr, sehr viel Mate­ri­al gesam­melt, Aljoscha. Ein klei­nes fünf­jäh­ri­ges Mäd­chen wur­de aus irgend­ei­nem Grund von Vater und Mut­ter, einem sehr acht­ba­ren Beam­ten und sei­ner Frau, gebil­de­ten, wohl­erzo­ge­nen Leu­ten, gehasst. Ich behaup­te erneut mit aller Bestimmt­heit, die Lust, Kin­der zu miss­han­deln, und zwar aus­schließ­lich Kin­der, ist eine Beson­der­heit vie­ler Men­schen. Gegen­über allen ande­ren mensch­li­chen Wesen beneh­men sich die­sel­ben Leu­te wohl­wol­lend und freund­lich, als gebil­de­te, huma­ne Euro­pä­er, doch Kin­der zu miss­han­deln, ist ihnen gera­de­zu ein Ver­gnü­gen. Unter die­sem Gesichts­punkt lie­ben sie die Kin­der sogar. … Die gebil­de­ten Eltern unter­war­fen also die­ses arme fünf­jäh­ri­ge Mäd­chen allen mög­li­chen Fol­tern. Sie schlu­gen es, peitsch­ten es, stie­ßen es mit Füßen, ohne zu wis­sen war­um, so dass der gan­ze Kör­per der Klei­nen mit blau­en Fle­cken bedeckt war. Zuletzt ver­fie­len sie auf höchst raf­fi­nier­te Mar­tern. Sie sperr­ten sie bei star­ker Käl­te eine gan­ze Nacht auf dem Abort ein. Und sie beschmier­ten ihr das Gesicht mit Kot und zwan­gen sie, die­sen Kot zu essen: zur Stra­fe dafür, dass sie sich nachts bei einem kör­per­li­chen Bedürf­nis nicht gemel­det hat­te. Die eige­ne Mut­ter zwang sie dazu, die eige­ne Mut­ter! Und die­se Mut­ter konn­te schla­fen, wäh­rend das Stöh­nen des armen Kin­des zu hören war, das sie an die­sem wider­wär­ti­gen Ort ein­ge­sperrt hat­ten. Ver­stehst du das, wenn das klei­ne Wesen, das noch nicht ein­mal zu begrei­fen ver­steht, was mit ihm geschieht, sich in Dun­kel­heit und Käl­te und Gestank mit dem Fäust­chen ängst­lich gegen die Brust schlägt und mit unschul­di­gen, from­men Trä­nen den ‘lie­ben Gott’ um Schutz anfleht — ver­stehst du die­se Sinn­lo­sig­keit, du mein Freund und Bru­der, du demü­ti­ger Die­ner Got­tes? Ver­stehst du, wozu die­se Sinn­lo­sig­keit not­wen­dig ist, wozu sie da ist? Man sagt, ohne sie könn­te der Mensch gar nicht auf Erden leben; er wür­de das Gute und das Böse nicht erken­nen. Aber wozu sol­len wir die­ses ver­damm­te Gute und Böse erken­nen, wenn uns das so teu­er zu ste­hen kommt? Eine gan­ze Welt von Erkennt­nis wiegt ja nicht die Trä­nen auf, mit denen das Kind zum ‘lie­ben Gott’ betet! Ich rede nicht von den Lei­den der Erwach­se­nen, die haben von dem Apfel geges­sen, hol sie alle der Teu­fel! Aber die klei­nen Kin­der! …”



“Hör mich an. Ich habe die Kin­der nur als Bei­spiel benutzt, damit der Beweis deut­li­cher wur­de. Von den übri­gen Men­schen­trä­nen, mit denen die gan­ze Erde von der Rin­de bis zum Zen­trum getränkt ist, sage ich wei­ter kein Wort, ich habe mein The­ma absicht­lich beschränkt. Ich bin eine Wan­ze und geste­he in aller Demut, dass ich nicht begrei­fen kann, war­um alles so ein­ge­rich­tet ist 

Ich will mit eige­nen Augen sehen, wie die Hirsch­kuh sich neben den Löwen legt, wie der Ermor­de­te auf­er­steht und sei­nen Mör­der umarmt. Ich will dabei sein, wenn alle plötz­lich erken­nen, war­um alles so gewe­sen ist. Auf die­sem Wunsch beru­hen alle Reli­gio­nen auf der Erde, und ich bin gläu­big. Aber da sind nun noch die klei­nen Kin­der, was soll ich mit denen anfan­gen? Das ist eine Fra­ge, auf die ich kei­ne Ant­wort fin­de. Ich wie­der­ho­le aber­mals, es gibt vie­le sol­cher Fra­gen; ich habe die Kin­der als ein­zi­ges Bei­spiel benutzt, weil das, was ich sagen will, hier­bei unver­kenn­bar deut­lich ist. Pass auf! Wenn alle lei­den müs­sen, um durch ihr Lei­den die ewi­ge Har­mo­nie zu erkau­fen — inwie­fern sind dar­an die klei­nen Kin­der betei­ligt? Das sag mir doch bit­te! Es gibt über­haupt kei­ne Erklä­rung, war­um auch sie lei­den und durch ihr Lei­den die Har­mo­nie erkau­fen müs­sen … Die Soli­da­ri­tät in der Sün­de unter den Men­schen begrei­fe ich, ich begrei­fe auch die Soli­da­ri­tät in der Ver­gel­tung. Aber die klei­nen Kin­der haben doch an der Soli­da­ri­tät in der Sün­de nicht teil, und wenn es wirk­lich wahr ist, dass sie mit ihren Vätern in deren Übel­ta­ten soli­da­risch sind, so ist die­se Wahr­heit aller­dings nicht von die­ser Welt und mir unver­ständ­lich. Der eine oder ande­re Spaß­vo­gel wird viel­leicht sagen, das Kind wer­de her­an­wach­sen und dann schon sün­di­gen — aber zumin­dest jener Jun­ge ist gar nicht erst her­an­ge­wach­sen, son­dern schon im Alter von acht Jah­ren mit Hun­den zu Tode gehetzt wor­den. Nein, Aljoscha, ich läs­te­re Gott nicht! Ich begrei­fe ja, wie gewal­tig die Erschüt­te­rung des Welt­alls sein muss, wenn alles, was im Him­mel und auf Erden und unter der Erde ist, zusam­men­flie­ßen wird in einen ein­zi­gen Lob­ge­sang, und alles, was da lebt und gelebt hat, rufen wird: ‘Gerecht bist du, Herr, denn dei­ne Wege sind offen­bar gewor­den!’ Wenn selbst die Mut­ter das Unge­heu­er umar­men wird, das ihren Sohn von den Hun­den zer­rei­ßen ließ, und alle drei unter Trä­nen aus­ru­fen wer­den: ‘Gerecht bist du, o Herr!’ Dann wird die Erkennt­nis natür­lich ihren Gip­fel­punkt errei­chen, und alles wird sei­ne Erklä­rung fin­den. Aber da sitzt eben der Haken, gera­de das kann ich nicht akzep­tie­ren. 
… 
Aber ich will das dann nicht aus­ru­fen. Solan­ge es noch Zeit ist, beei­le ich mich, Ein­spruch zu erhe­ben, und dar­um will ich von der höchs­ten Har­mo­nie über­haupt nichts wis­sen. Sie ist nicht ein­mal die Trä­nen jenes einen gequäl­ten Kin­des wert, das sich mit dem Fäust­chen an die Brust schlug und in sei­nem stin­ken­den Gefäng­nis mit unge­sühn­ten Trä­nen zum ‘lie­ben Gott’ bete­te! Sie ist die­se Trä­nen nicht wert, weil sie unge­sühnt geblie­ben sind. Sie müs­sen gesühnt wer­den, sonst ist eine Har­mo­nie unmög­lich. Aber wodurch, wodurch kön­nen sie gesühnt wer­den? Ist das über­haupt mög­lich? Etwa dadurch, dass sie gerächt wer­den? Was hilft mir eine dafür geüb­te Rache? Was hilft mir die Höl­le für die Pei­ni­ger? Was kann die Höl­le wie­der­gut­ma­chen, wenn sol­che Kin­der schon zu Tode gequält wor­den sind? Und was ist das für eine Har­mo­nie, wenn dar­in eine Höl­le vor­kommt? Ich will ver­zei­hen, will umar­men, ich will nicht, dass wei­ter gelit­ten wird! Und wenn die Lei­den der Kin­der hel­fen muss­ten, um jene Sum­me von Lei­den voll zu machen, die zur Erkau­fung der Wahr­heit not­wen­dig war, so behaup­te ich, dass die gan­ze Wahr­heit die­sen Preis nicht wert ist. Und end­lich will ich auch gar nicht, dass die Mut­ter den Pei­ni­ger umarmt, der ihren Sohn von den Hun­den hat zer­rei­ßen las­sen! Sie darf ihm nicht ver­zei­hen! Sie mag dem Pei­ni­ger das maß­lo­se Leid ihres Mut­ter­her­zens ver­zei­hen! Aber sie hat kein Recht, die Lei­den ihres zu Tode gequäl­ten Kin­des zu ver­zei­hen! Sie darf dem Pei­ni­ger nicht ein­mal dann ver­zei­hen, wenn das Kind selbst ihm ver­zei­hen wür­de! Wenn es aber so ist, wenn nicht ver­zie­hen wer­den darf, wo bleibt da die Har­mo­nie? Gibt es auf der gan­zen Welt ein Wesen, das ver­zei­hen könn­te und dazu ein Recht hät­te? Ich will kei­ne Har­mo­nie! Aus Lie­be zur Mensch­heit will ich sie nicht! Lie­ber will ich mei­ne unge­räch­ten Lei­den behal­ten. Lie­ber will ich mei­ne unge­räch­ten Lei­den und mei­ne nicht beschwich­tig­te Ent­rüs­tung behal­ten. Selbst wenn ich unrecht haben soll­te. Für die­se Har­mo­nie wird ein gar zu hoher Preis ver­langt; es ent­spricht nicht unse­rem Geld­beu­tel, so viel Ein­tritts­geld zu bezah­len! Dar­um beei­le ich mich, mein Ein­tritts­bil­lett zurück­zu­ge­ben. Und wenn ich auch nur ein eini­ger­ma­ßen ehren­haf­ter Mensch bin, so bin ich ver­pflich­tet, das mög­lichst rasch zu tun. Das tue ich denn auch. Nicht, dass ich Gott nicht aner­ken­ne, Aljoscha ich gebe ihm nur mein Bil­lett erge­benst zurück.” 

“Das ist Rebel­li­on”, sag­te Aljoscha lei­se, mit nie­der­ge­schla­ge­nen Augen. 

“Rebel­li­on? Die­ses Wort hät­te ich von dir nicht zu hören gewünscht”, sag­te Iwan ergrif­fen. “Kann man denn im Zustand der Rebel­li­on leben? Und ich will ja doch leben. Sag es mir selbst gera­de­her­aus, ich rufe dich auf, ant­wor­te: Stell dir vor, du selbst hät­test das Gebäu­de des Men­schen­schick­sals aus­zu­füh­ren mit dem End­ziel, die Men­schen zu beglü­cken, ihnen Frie­de und Ruhe zu brin­gen; dabei wäre es jedoch zu eben die­sem Zweck not­wen­dig und unver­meid­lich, sagen wir, nur ein ein­zi­ges win­zi­ges Wesen zu quä­len — bei­spiels­wei­se jenes Kind, das sich mit den Fäust­chen an die Brust schlug — und auf sei­ne unge­räch­ten Trä­nen die­ses Gebäu­de zu grün­den: Wür­dest du unter die­sen Bedin­gun­gen der Bau­meis­ter die­ses Gebäu­des sein wol­len? Das sage mir, und lüge nicht!” 

“Nein, ich wür­de es nicht wol­len”, erwi­der­te Aljoscha lei­se. 

“Und kannst du glau­ben, dass die Men­schen, für die du baust, damit ein­ver­stan­den wären, ihr Glück durch das unge­recht­fer­tigt ver­gos­se­ne Blut jenes klei­nen Mär­ty­rers zu emp­fan­gen und ewig glück­lich zu blei­ben, nach­dem sie es emp­fan­gen haben?”

Das The­ma, das Dos­to­jew­ski in die­ser Sze­ne sei­nes Buches “Die Gebrü­der Kara­ma­sow” anspricht, stellt die Grund­satz­fra­ge jeder Reli­gi­on. Mit ihm setzt sich auch das Buch »Ist Gott noch zu ret­ten?« auseinander.

Mat­thi­as Stieh­ler
Ist Gott noch zu ret­ten?
Wor­an wir glau­ben können

Ver­lag tre­di­ti­on Ham­burg 2016