Dr. Matthias Stiehler

Das Prinzip Stalinismus

Wie Humanismus in Inhumanität umschlägt

Wenn von “Sta­li­nis­mus” gespro­chen wird, lässt sich dies auf eine Epo­che der Sowjet­uni­on bezie­hen, in der Sta­lin der Macht­ha­ber war und eine Schre­ckens­herr­schaft führ­te. Doch das wäre eine zu ein­fa­che Sicht­wei­se. Die Pra­xis des Sta­li­nis­mus ist längst nicht nur mit der Per­son Sta­lins ver­bun­den. Sie begann bereits unter Lenin und dau­er­te noch lan­ge nach Sta­lins Tod an. Und sie war und ist nicht nur auf die Sowjet­uni­on beschränkt. Heu­te fin­den wir bei­spiels­wei­se in Nord­ko­rea oder Vene­zue­la For­men des­sen, was Sta­li­nis­mus ausmacht.

Sta­li­nis­mus ist weder ein Ein­zel­fall noch eine zufäl­li­ge Erschei­nung. Sta­li­nis­mus ist ein Prinzip.

Die­ses Prin­zip nimmt sei­nen Aus­gangs­punkt in der Über­zeu­gung, den rich­ti­gen Weg zum Wohl der Men­schen erkannt zu haben. Und das ist im Grund­satz auch ver­ständ­lich. Es geht der kom­mu­nis­ti­schen Welt­an­schau­ung, die dem Sta­li­nis­mus zugrun­de liegt, um sozia­le Gerech­tig­keit, es geht um ein Ende der Aus­beu­tung und einer Benach­tei­li­gung, die ihren Ursprung in unglei­chen Vor­aus­set­zun­gen der Men­schen hat. Heut­zu­ta­ge legt die Geburt eines Men­schen des­sen Lebens­lauf zwar nicht völ­lig fest, aber erhöht oder min­dert des­sen Lebens­chan­cen erheb­lich. In der heu­ti­gen Zeit sind die glo­ba­len Unter­schie­de beson­ders groß.

Der ent­schei­den­de Feh­ler der kom­mu­nis­ti­schen Ideo­lo­gie ist jedoch, dass dar­an geglaubt wird, das Ziel einer gerech­ten Welt lie­ße sich wirk­lich errei­chen. Und so ver­steh­bar die­se Sehn­sucht ist, so irre­al ist sie. Alle, wirk­lich alle Ver­su­che, eine gerech­te Gesell­schaft zu eta­blie­ren, sind geschei­tert. Bes­ten­falls gibt es unter den unge­rech­ten Gesell­schaf­ten eini­ge, die nicht ganz so unge­recht sind. Aber auch deren Balan­ce gerät immer wie­der aus dem Gleichgewicht.

Sta­li­nis­mus beginnt da, wo Men­schen glau­ben, das Glück erzwin­gen zu kön­nen, wo die Sehn­sucht nach einer gerech­ten Gesell­schaft mit aller Macht durch­ge­setzt wer­den soll. Und genau das haben alle soge­nann­ten “sozia­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten” ver­sucht. Ihre Tra­gik ist, dass sie nicht wirk­lich lebens­fä­hig waren und in aller Regel ein noch unge­rech­te­res Sys­tem eta­blier­ten. Das Prin­zip des Sta­li­nis­mus besteht dar­in, die Wahr­heit, dass es kei­ne gerech­te Welt gibt und geben wird, nicht zu akzep­tie­ren. Es wird unrea­lis­ti­schen Idea­len nach­ge­han­gen und damit das real Mög­li­che verhindert.

Auch in unse­rer heu­ti­gen Gesell­schaft sind sta­li­nis­ti­sche Ten­den­zen zu beob­ach­ten. Sie tau­chen über­all dort auf, wo in vol­ler Über­zeu­gung, das Rich­ti­ge für das Wohl der Men­schen zu tun, Regle­men­tie­run­gen durch­ge­setzt wer­den und die eige­nen Anschau­un­gen in Into­le­ranz bis hin zum Hass mün­den. Der demo­kra­ti­sche Grund­kon­sens wird auf­ge­kün­digt, es wird ver­sucht, sich mit Macht gegen ande­re durch­zu­set­zen. All das geschieht in der Über­zeu­gung, das Gute zu wol­len und damit auf der rich­ti­gen Sei­te zu ste­hen. Die gute Absicht legi­ti­miert nicht nur das eige­ne Tun, sie scheint regel­recht zu for­dern, gegen die ande­ren vorzugehen.

Wir, die wir in der DDR auf­ge­wach­sen sind, ken­nen die­se Argu­men­ta­ti­on all­zu gut. Sie wur­de als “Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats” bezeich­net. Doch wir haben an uns selbst erfah­ren, dass solch eine Hal­tung nicht nur ihr Ziel ver­fehlt, son­dern dass damit die eige­nen huma­nis­ti­schen Idea­le ver­ra­ten werden.

Der ein­zi­ge Weg, das “sta­li­nis­ti­sche Prin­zip” auch schon in sich selbst abzu­weh­ren, besteht in einer Akzep­tanz der eige­nen wie der gesell­schaft­li­chen Begren­zung. Das mag weh tun, weil sich die Idea­le und Sehn­süch­te nicht erfül­len. Aber es ist der ein­zi­ge Weg der Humanität.

Das Buch »Ist Gott noch zu ret­ten?« beschreibt die­sen Weg.

Mat­thi­as Stieh­ler
Ist Gott noch zu ret­ten?
Wor­an wir glau­ben können

Ver­lag tre­di­ti­on Ham­burg 2016

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