Der Traum und die Lüge von einer glücklichen Kindheit
Freitag, 17. Juni 2016: Im SWR kam die Sendung “Nachtcafé” mit dem Thema “Kindheit — prägend fürs Leben?” Gäste waren mehrere Menschen, die in unterschiedlicher Weise eine schwierige Kindheit erlebten bzw. die ein konkretes Erlebnis hatten, das schrecklich und/oder traumatisierend war. All diese Schicksale berührten und auch mich befiel Respekt vor der Kraft und dem Willen dieser Menschen, ihrem Schicksal zu trotzen und dem Leben Leben abzugewinnen.
Und dennoch war diese Sendung von einer Lüge geprägt!
Nicht, weil diese Menschen, die von ihrem Schicksal erzählten, gelogen hätten. Das war nicht der Fall. Die Lüge betrifft eher die Macher der Sendung und vielleicht auch uns Zuschauer. Sie bestand in der kolportierten Meinung, es gibt solche schrecklichen Erfahrungen, aber zugleich auch die Möglichkeit einer glücklichen Kindheit. Der Moderator, Michael Steinbrecher, stellte genau diese Frage immer einmal wieder: Was macht eine glückliche Kindheit aus. Und angesichts der vorgestellten, wirklich schweren Schicksale mag manch ein Zuschauer zu der Überzeugung gelangen, dass er selbst durchaus eine glückliche Kindheit hatte. Doch stimmt das?
Kann es nicht sein, dass wir deswegen so gern auf solche schrecklichen Schicksale schauen, weil wir dadurch von unseren eigenen Erfahrungen abgelenkt werden, die vielleicht nicht so offensichtlich, aber dennoch wirklich schlimm waren?
Es stimmt schon, dass Menschen in ihrer Kindheit besonders furchtbare Erfahrungen machen mussten und müssen. Aber gibt es deswegen als Gegenpart wirklich glückliche Kindheiten? Meine Erfahrung aus unzähligen Beratungen ist vielmehr, dass sich viele Menschen deswegen die Geschichte einer glücklichen Kindheit erzählen, um damit eigene schlimme Erfahrungen von Einsamkeit, emotionalen Missbrauch, Vernachlässigung, Unverstandensein, Entwertung und und und … nicht erinnern zu müssen.
Sicher, die meisten Eltern wollen in den allermeisten Fällen ihren Kindern nichts Böses antun. Und dennoch ist jedes Kind mit ihren unvermeidlichen Grenzen konfrontiert und wächst damit auf. Das ist dann zumeist nicht im streng psychologischen Sinn traumatisch. Aber es fügt der kindlichen Seele dennoch Wunden zu. Die alltäglichen Erfahrungen von Einsamkeit, emotionalen Missbrauch, Vernachlässigung, Unverstandensein, Entwertung und und und … hinterlassen ihre Spuren — bei jedem. Das ist so. Und im Ergebnis leben wir mit hungrigen Seelen, die nie wirklich satt werden.
Die offensichtlich schlimmen Schicksale, von denen im Nachtcafé der SWR am 17. Juni 2016 berichtet wurden, sollten uns also nicht ins Mitleid führen (“Ach, wie hatten sie es schwer, die Armen.”), sondern in die Solidarität, in die Empathie: Wir sind alle verletzte Seelen, die das jeweils eigene, ganz individuelle Schicksal ertragen mussten. Uns alle trennt in dieser Beziehung nicht viel.
Im Buch »Ist Gott noch zu retten?« wird die grundsätzliche Situation eines jeden Menschen, dass er Erfahrungen machen muss, dass sich das Versprechen auf Leben nie wirklich, nie sättigend erfüllt, in den Kapiteln “Die Begrenzung unserer Lebendigkeit”, “Die Realität menschlicher Entfremdung” und “Der Schmerzensmann” dargestellt.
Matthias Stiehler
Ist Gott noch zu retten?
Woran wir glauben können
Verlag tredition Hamburg 2016