Die existenzielle Botschaft Paul Tillichs
Paul Tillich ist einer der großen Theologen des 20. Jahrhunderts. Das Besondere an ihm ist, dass sich die zentralen Aussagen seiner Schriften sowohl intellektuell als auch existenziell, also als unmittelbare Ansprache lesen lassen. Innerhalb der Schultheologie wird natürlich vor allem intellektuell argumentiert (bspw: Werner Schüssler: Ein missverstandener Bestseller. Kritische Anmerkungen zu Tillichs Schrift „Der Mut zum Sein“. In: Dialog. Mitteilungsblatt der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft 68/69, S. 18 ff. https://theologie.uni-trier.de/fileadmin/theofak/Prof._Schuessler/DIALOG_68_69_oMV.pdf). Aber wirklich faszinierend ist Tillich, wenn wir seine Aussagen als unmittelbar den Einzelnen betreffend ansehen. Dann ist es keine Überlegung „über etwas“, sondern betrifft das eigene Leben.
Paul Tillich thematisiert die Zerrissenheit des 20. Jahrhunderts mit seinen Kriegen und furchtbaren Verbrechen. Er nimmt die Tatsache ernst, dass uns gegenwärtigen Menschen die Selbstverständlichkeit eines Gottesglaubens verloren gegangen ist. Der Zweifel am Sinn unseres Lebens sieht Tillich als eine zentrale Charakteristik heutigen Lebens. Er fordert sogar auf, diesen Zweifel ernst zu nehmen. Damit wendet er sich gegen diejenigen, die den Zweifel mit traditionellen Formeln wegreden wollen. Das erleben wir auch heute noch in so gut wie jeder Sonntagspredigt. Er wendet sich jedoch zugleich gegen die, die die Sehnsucht nach dem Sinn des Lebens negieren und sich auf ein Leben ohne Tiefendimension einlassen.
Paul Tillich bleibt überzeugt, dass die Welt durch den existenziellen Zweifel nicht dem sinnhaften Grund unseres Daseins beraubt wird. Denn ein wirklicher Zweifel, der aus dem Schmerz des Verlustes von – eigentlich notwendiger! – Gewissheit entsteht, lässt gerade erkennen, dass er Zeichen der Tiefendimension unseres Lebens ist. Echter Zweifel ist für ihn gekennzeichnet durch die Erschütterung bis ins Mark. Seine bekannteste Aussage hierzu ist der letzte Satz seines Buches „Der Mut zum Sein“: „Der Mut zum Sein wurzelt in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels verschwunden ist.“ (Furche-Verlag H. Rennebach, Hamburg 1965, S. 188)
Mein Buch »Ist Gott noch zu retten?« knüpft an diese existenzielle Aussage Tillichs an. Jedoch gehe ich noch einen Schritt weiter, da sich die Voraussetzungen des Glaubens in der gegenwärtigen Gesellschaft verändert haben. Mein Leben begann in der Zeit, in dem das von Paul Tillich endete. Es war nicht der Verlust der Glaubenssicherheit, der meine Generation erschütterte. Als Kind der DDR war der Glaube an Gott längst keine Normalität mehr. Es war eher umgekehrt: Die Negation der Existenz Gottes war selbstverständlicher, der Glaube brauchte eine Begründung.
Doch wie soll ein Glauben begründet werden, der in seiner grundlegenden Aussage, dass die Welt durch Gott erlöst wird, so diametral gegen die konkrete Erfahrung steht? Zumal gerade der christliche Glaube seine Entstehung der unmittelbaren und zeitnahen (!) Erwartung des Gottesreiches verdankt – vor 2000 Jahren.
Die Antworten der gegenwärtigen Zeit bestehen zunächst in einer Verflachung des Lebens, die an den Kirchen überdeutlich abzulesen ist. Von einer existenziellen Glaubenshaltung, einem „letztgültigen Ergriffensein“ (Paul Tillich: „Die Dynamik des Glaubens“ Walter de Gruyter Berlin, Bosten 2020, S. 14) ist im Alltag der Gemeinden kaum etwas zu spüren. Auf der anderen Seite entstehen Bewegungen, die sich gegen die Zerstörung unserer Welt und für mehr Gerechtigkeit einsetzen und so die Hoffnung in sich tragen, nun endlich die Menschheit aus eigener Kraft besser werden zu lassen. Es sind Erlösungssehnsüchte, denen das historische Wissen fehlt, dass alle ähnlichen Versuche der Menschheit bisher kläglich gescheitert sind.
Die Antwort auf die Glaubenskrise unserer Zeit kann also nicht darin bestehen, die Selbsterlösung zu propagieren, die allen Erfahrungen der Menschheit Hohn spricht. Die Antwort liegt aber auch nicht darin, die Tiefendimension unseres Lebens durch eine gedankenlose Abwahl eines Gottesglaubens zu kappen. Der einzige Weg kann nur darin bestehen, das Scheitern der Sehnsucht nach Erlösung auszuhalten und in einem Trotzdem der Sinnhaftigkeit unseres Lebens gewahr zu werden.
Im Buch »Ist Gott noch zu retten?« beschreibe ich dies so:
„Gott zu begegnen, heißt, die Tiefe des Lebens zu erfassen. Die Illusionen werden entlarvt, der falsche Schein, der unser Leben oft bestimmt, löst sich auf. Das gleichgültige Vorsichhinleben wird ebenso überwunden wie die endlosen Hoffnungen, es würde sich doch noch irgendetwas erfüllen, was Erlösung bringt – egal ob im Dies- oder im Jenseits. Die Erlösung des christlichen Glaubens ist demgegenüber die Erkenntnis, dass es keine Erlösung gibt. Die Erleuchtung des christlichen Glaubens ist, dass es keine Erleuchtung gibt. Das ist der Schmerz, der uns beim Blick in die Tiefe des Lebens begegnet. Und es ist zugleich ein Halt, den wir dabei gewinnen und der uns die Gewissheit echten Lebens gibt.
Erst diese Art von Erlösung, erst diese Erleuchtung ermöglicht gelungenes Leben. Denn so wird es möglich, die Spannung zwischen unserer Sehnsucht nach Leben und der grundsätzlichen Begrenzung unseres Lebens zu halten, den Versuchungen des Fanatismus wie der Gleichgültigkeit zu widerstehen und darin ein Leben in Verantwortung und Würde zu führen. Gemeint ist also keine Haltung, die sich einfach abfindet. Das wäre der Weg der Gleichgültigkeit, der in unserer heutigen Zeit besonders gern gegangen wird und der die Tiefe aus unserem Leben schwinden lässt. Auch das ist ein Versuch, der Wahrheit des Schmerzensmannes zu entgehen. Mythologisch können wir es so ausdrücken: Es geht darum, mit Gott an der Welt zu leiden und sie darin mit ihm zu tragen. Aber das ist eine Aussage, die nicht wirklich beschrieben, sondern nur gelebt werden kann. Es ist die Aussage einer Religiosität ohne Illusionen.“ (S. 128f.)
Matthias Stiehler
Ist Gott noch zu retten?
Woran wir glauben können
Verlag tredition Hamburg 2016