Die Grenze zwischen Tätern und Nichttätern
Ich bin zu einem Treffen des Netzwerks Jungen- und Männergesundheit in Weimar. Wir besuchen das ehemalige KZ Buchenwald. Ich bin seit langer Zeit wieder einmal auf diesem Gelände. Wir laufen durch das berühmt-berüchtigte Tor, gehen über das Gelände, besuchen die Ausstellung des Grauens, sehen uns das Krematorium, die Pathologie, den Erschießungsraum an. Es ist schrecklich und die Wucht des Fühlbaren ist kaum zu ertragen. Was mussten Menschen hier erleiden, wieviel Zerstörung von Lebenshoffnungen und Tod hat es hier in den Jahren von 1937 bis 1945 und dann auch noch zwischen 1945 und 1950 gegeben?
Doch so sehr ich in meinen Empfindungen bei den Opfern bin, so sehr frage ich mich, ob ich damals nicht auch bei den Tätern mitgemacht oder ob ich in irgendeiner Weise Widerstand geleistet hätte. Natürlich wünsche ich mir, ich hätte Widerstand geleistet. Aber kann ich mir sicher sein? Ich bin ein deutscher, heterosexueller, nichtjüdischer Mann. Ich habe bei meinen Überlegungen keine Möglichkeit, mich über meine Gruppenzugehörigkeit den Opfern zugehörig zu fühlen und mich von den Tätern einfach abzugrenzen. Diese Möglichkeit habe ich nicht, auch wenn mir beim Gang durch das ehemalige KZ-Gelände vor allem das Leid der Opfer nahe ist.
Ich weiß, dass ich — wie vermutlich jeder Mensch — auch zu einem Täter werden kann. Ich habe in zahlreichen therapeutischen Situationen erlebt, wie an sich friedliche Menschen einen mörderischen Hass in sich aufkommen fühlten, wenn sie emotionalen Kontakt zu ihren seelischen Verletzungen bekamen. Bisher habe ich jedenfalls noch keinen Menschen kennengelernt (also wenn ich im persönlichen oder beruflichen Kontext unter seine Oberfläche geschaut habe), der keine solche Verletzungen in sich trägt. Wut und Schmerz sind unseren erwachsenen Seelen immanent. Es ist anzunehmen, dass jeder Mensch — nicht nur deutsche, nicht nur männliche, nicht nur weiße — in der Lage sind, furchtbare Verbrechen an anderen Menschen zu begehen. Im Potenzial gibt es keine grundsätzliche Trennlinie zwischen Tätern und Nichttätern.
Das eigentlich Entscheidende, warum manche zu Tätern werden und manche nicht, liegt im Empfinden gegenüber dem eigenen verbrecherischen Tun. Um Täter werden zu können, braucht es zwei Bedingungen, die sich auf die Verletzungen der Seele legen.
Die erste und entscheidendste ist die Leugnung des eigenen Hasspotenzials. Wer keinen Kontakt zu seinen Seelenverletzungen hat bzw. herstellt, ist grundsätzlich anfälliger, den eigenen Hass zu externalisieren und an anderen Menschen auszuleben, die so zu unseren Sündenböcken werden. Das eigene Problem wird beim anderen gesehen und die eigene verletzte Seele scheinbar nicht mehr gespürt. Es gibt Menschen, die aufgrund ihrer frühen Lebensgeschichte gar nicht in der Lage sind, auch nur geringfügig Empathie mit einem leidenden Menschen zu entwickeln. Die meisten Menschen aber können das sehr wohl. Sie wehren ihr mögliches Mitempfinden aktiv — wenn auch zumeist nicht bewusst — ab.
Die zweite Bedingung ist, dass die Hemmungen fallen, den Hass auszuleben. Das kann beispielsweise ein plötzlicher emotionaler Flash sein. Es kann sich aber auch um die moralischen Wertungen einer Gruppe (Peergroup, Bevölkerungsgruppe, Gesellschaft) handeln, die das Töten oder die Unterdrückung anderer Menschen legitimieren und damit die Hemmungen abbauen. Das aktive Morden großer Teile der deutschen Bevölkerung und auch das Stillhalten gegenüber den Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus geschah sicher auch aus Angst, vor allem aber durch den Abbau von Hemmungen. Konzentrationslager und massenhafte Grausamkeiten an Menschen wurden normal. Dadurch war es möglich, dass mit den Jahren eine Tötungsmaschinerie entstand, die insbesondere bei der millionenfachen Ermordung von Juden planmäßig und gefühllos vorging.
Die Abwehr des eigenen Hasspotenzials und der Abbau von Hemmungen und Scham waren die Ursache, dass in einem an sich zivilisierten Land unvorstellbare Verbrechen verübt wurden. Und ich glaube, dass das in jedem anderen Land und auch im heutigen und künftigen Deutschland immer wieder geschahen kann. Eine erfolgreiche Abwehr ist nur dadurch möglich, sich den beiden beschriebenen Bedingungen gesellschaftlich wie im eigenen Leben entgegenzustellen.
Matthias Stiehler
Ist Gott noch zu retten?
Woran wir glauben können
Verlag tredition Hamburg 2016