Die Spaltung der Gesellschaft als Abwehr eigener Ambivalenz
Die Abstimmung zum Austritt Großbritanniens aus der EU zeigte einmal mehr, was in solchen Momenten von den Medien — manchmal erstaunt — festgestellt wird: Die Gesellschaften der westlichen Welt sind in entgegengesetzte, sich häufig unversöhnlich gegenüberstehende Lager gespalten. Und es sind nicht nur die Briten, die Österreicher, die Polen oder die Amerikaner, auch in unserer deutschen Gesellschaft ist immer wieder eine tiefe Zerrissenheit erkennbar. Wir wissen das spätestens seit Pegida und Antipegida.
Doch das, was jetzt so auffällig geworden ist, gibt es schon sehr viel länger. Ich kenne es persönlich aus zwanzig Jahren Männerarbeit. Diese ist von jeher in unversöhnliche Lager gespalten, die sich ganz grob in Profeministen und in Maskulisten unterteilen lassen. Ich kenne beide Seiten ganz gut und weiß auch, dass sie beide zumindest bedenkenswerte Argumente und Themen vertreten. Doch um Sachlichkeit geht es selten. Gegenseitige Diffamierungen bestimmen schon lange den Diskurs — auch wenn es die jeweilige Seite für sich zurückweist. Bemerkenswert ist, dass Vermittlungsversuche oder auch nur Initiativen zum Miteinander-Reden regelmäßig geblockt werden. Ich habe den Eindruck, dass es gerade darum geht: Nicht miteinander ins Gespräch kommen und die Spaltung aufrecht zu erhalten.
Die Spaltung unserer Gesellschaft ist also kein unliebsames Nebenprodukt eines “Willens zur Wahrheit”. Sie ist vielmehr Mittel zum Zweck. Das ist eine wichtige Erkenntnis, denn so müssen wir uns bei der Feststellung der Spaltung unserer Gesellschaft erst einmal nicht mit den Sachthemen auseinandersetzen, sondern das Phänomen an sich verstehen wollen.
In der Psychologie wird von einer “Spaltungsabwehr” gesprochen. Diese hat den Sinn das Bild von sich oder einer wichtigen Bezugsperson als nicht-ambivalent, also als ausschließlich gut (manchmal auch umgekehrt als Form der eigenen Selbstanklage als “nur schlecht”, um die Bezugsperson zu schützen) aufrecht zu erhalten. Auf sich selbst bezogen bedeutet das, die eigenen Ambivalenzen, die eigenen dunklen Anteile nicht zu sehen und sie stellvertretend anderen zuzuschreiben.
Die Entstehung einer Spaltungsabwehr ist biografisch dem ersten Lebensjahr zuzuordnen, also einer Zeit, in der die realen Ambivalenzen in jedem Menschen und jeder Beziehung nicht aushaltbar sind. Spaltung ist demnach eine frühkindliche Abwehr, um die erlebte Welt aushaltbar zu machen.
Diese Aussage eröffnet den zentralen Erklärungsansatz für die Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft. Es geht darum, die jeweils eigenen Unsicherheiten abzuwehren, um das eigene Leben handhabbar und erträglich zu machen. Ein Beispiel: Die Nazis wehren so ihre tief sitzenden Ängste ab, die Antifa ihren eigenen Menschenhass. Es sind aber eben nicht die Ängste vor Flüchtlingen, sondern vor der eigenen Halt- und Orientierungslosigkeit. Es ist nicht der (vermeintlich berechtigte) Hass auf Nazis, sondern die Selbstverachtung aufgrund der eigenen Zerstörungswut, die man nicht wahrhaben möchte.
Ein Ausweg aus der Spaltung kann daher nur gelingen, wenn sich der Blick zuerst auf sich selbst richtet. Wer einen anderen Menschen bekämpfen möchte, sollte sich fragen, was dieser verkörpert und was man an sich selbst nicht sehen möchte. Damit kann es gelingen, die eigenen, vielleicht unangenehmen Seiten zu erkennen und sich so in all seiner Ambivalenz als “guter”, bemühter und ebenso “böser” und begrenzter Mensch wahrzunehmen. Mit dieser Haltung könnte die Erkenntnis einer Spaltung sogar Gutes bewirken: Man lernt sich selbst besser kennen und fühlt sich dem anderen näher, verwandter.
Das Buch »Ist Gott noch zu retten?« hat zum Ziel, unnötige Spaltungen abzubauen. Es baut beispielsweise Brücken zwischen Atheisten und religiösen Menschen und zeigt so auf, dass auch in solch grundlegenden Fragen, wie der Weltanschauung manches Mal Gräben gesehen oder gar aufgerissen werden, wo sie nicht sein müssten.
Darüber hinaus aber zeigt das Buch, dass Ambivalenzen unauflöslich zu unserem Leben gehören. Die Welt lässt sich eben nicht einfach in gut und böse, richtig und falsch einteilen. Jeder Mensch steht vor der Aufgabe, seine ambivalente Seele, also seine guten wie seine bösen Seiten zu erkennen und zu verantworten. Das ist Erwachsensein.
Matthias Stiehler
Ist Gott noch zu retten?
Woran wir glauben können
Verlag tredition Hamburg 2016