“Euch sollte es doch mal besser gehen”
In einem Artikel der Zeitschrift DIE ZEIT vom 30. Juni 2016 beschreibt der Journalist Heinrich Wefing, wie er sich mit seinen Kindern über die Zeit, in der er so alt war wie sie heute, unterhielt und welche Hoffnungen er für ihre Zukunft hatte. Diese ließen sich in der Aussage zusammenfassen, die die Überschrift über den Artikel bildete: “Euch sollte es doch mal besser gehen”.
Zitat: “Unsere Kinder sind in eine Welt hineingeboren, die voller Optionen ist und fast frei von Widerständen schien. Wenn ich mir Sorgen um sie gemacht habe, dann war es eher die Sorge, dass sie vor lauter Optionen verzweifeln könnten . So kommt es mir jedenfalls im Rückblick vor. Denn seit ein paar Monaten schiebt sich etwas anderes, Neues ins Bild, verändern sich die Sorgen. Jeden Tag sterben im Mittelmeer Menschen, jeden Tag, wir haben uns schon fast daran gewöhnt. Es gibt Terroranschläge, in Paris, in Brüssel, in Florida. In der Türkei werden Journalisten verhaftet, in Österreich wird um ein Haar ein Rechtspopulist zum Präsidenten gewählt, in Deutschland brennen Flüchtlingsheime . Es kommt mir vor, als seien die Fundamente plötzlich wieder in Gefahr. Was selbstverständlich schien, ist nicht mehr selbstverständlich. Das ist für meine Generation eine ziemlich verstörende Erkenntnis.”
Ich kann beides verstehen: sowohl die Hoffnung, dass sich unsere Welt nun endlich zum Besseren wandelt, als auch die Verstörung, die entsteht, wenn man erkennen muss, dass sich diese Hoffnung bei allem Bemühen nicht erfüllt. Im Buch »Ist Gott noch zu retten?« setze ich mich mit dieser Hoffnung auseinander. In dem Kapitel “Die Realität menschlicher Entfremdung” schreibe ich:
“In der heutigen Zeit feiert die Idee eine Auferstehung, dass sich unsere Welt zum Besseren verändern ließe. Interessanterweise sind in dieser Idee die Wirtschaftsführer des Kapitalismus mit den entschiedenen Gegnern des globalen Kapitalismus vereint — auch wenn sie gänzlich verschiedene Wege zu einer (vermeintlich) besseren Welt präferieren. Ich bin mir jedoch sicher, dass weder der eine Weg, der in einem Wandel durch technologischen Fortschritt und möglichst unbegrenztem Wachstum das Heil sieht, noch der andere, der das kapitalistische Wirtschaftssystem grundlegend ändern will, zum Ziel führt. Bestenfalls kann es hier und da ein paar Verbesserungen durch neue Technologien und Abmilderungen allzu großer sozialer Ungerechtigkeiten geben. Aber einen grundlegenden Wandel gab es noch nie und wird es auch künftig nicht geben.
Der entscheidende Begriff, der die Tatsache der grundsätzlichen Entwertung der ‘Grundordnung des Lebens’ als Gegebenheit menschlichen Lebens verdeutlicht und der somit die erste zentrale Aussage des Christentums — wie sicher auch der anderen Religionen — darstellt, ist die ‘Entfremdung des Menschen’.
Dieser Begriff charakterisiert das Leben des Einzelnen wie der gesamten Menschheit. Entfremdung des Menschen meint das Fremd-geworden-Sein gegenüber dem eigenen Wesen und umfasst all die Destruktionen, mit denen sich Menschen selbst und gegenseitig begegnen und die doch unveränderlich zum menschlichen Leben dazugehören: Hass, Verachtung, Egoismus, Krieg. Die Erfahrungen der Menschheit zeigen, dass sich die destruktive Seite nicht überwinden lässt. Wir können uns ein Leben in Übereinstimmung mit der ‘Grundordnung des Lebens’ vorstellen. Wir können uns eine Welt der Liebe und des Friedens vorstellen. Aber umsetzen können wir solch ein Leben und solch eine Welt nicht. Wir leben in einem Scheitern der Hoffnung. Das ist unsere Wahrheit.”
Das Buch »Ist Gott noch zu retten?« bleibt jedoch nicht bei der Beschreibung des Scheiterns unserer Hoffnungen stehen, sondern es zeigt, dass und wie gerade in dessen Anerkennung wahrhaftiges und gutes Leben möglich wird — für uns und unsere Kinder.
Matthias Stiehler
Ist Gott noch zu retten?
Woran wir glauben können
Verlag tredition Hamburg 2016