Dr. Matthias Stiehler

Gesundheits als Sehnsucht

Gesund­heit ist einer der weni­gen Wer­te, die in unse­rer plu­ra­lis­ti­schen Gesell­schaft von den meis­ten, wenn nicht gar von allen Men­schen geteilt wer­den. Dabei ist gar nicht so ein­deu­tig, was mit Gesund­heit gemeint ist.

Da gibt es das soge­nann­te “funk­tio­na­le” Gesund­heits­ver­ständ­nis. Bekannt ist der Aus­spruch des Fran­zo­sen Lerich: “Gesund­heit ist Leben im Schwei­gen der Orga­ne.” Die­ses Ver­ständ­nis ist im sozia­len All­tag weit ver­brei­tet. Men­schen sind krank, weil sie sich in ihrer Gesund­heit so sehr beein­träch­tigt füh­len, dass sie am nor­ma­len Leben nicht teil­ha­ben kön­nen. Ärz­te ’schrei­ben krank’. Es gibt hier eine mehr oder weni­ger kla­re Trenn­li­nie zwi­schen “gesund” und “krank”.

Dane­ben aber gibt es noch ein “abso­lu­tes” Gesund­heits­ver­ständ­nis. Die Defi­ni­ti­on der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on, die Gesund­heit als “voll­stän­di­ges kör­per­li­ches, geis­ti­ges und sozia­les Wohl­be­fin­den” beschreibt, steht für die­se Auf­fas­sung. “Abso­lut” ist die­se Vor­stel­lung des­halb, weil sie zum einen alle Lebens­be­rei­che umfasst. Gesund­heit wird nicht nur auf Kör­per und See­le, son­dern eben­so auf sozia­le Bezie­hun­gen und gar auf die gesam­te Gesell­schaft bezo­gen. Zum zwei­ten aber geht es um einen voll­kom­me­nen Zustand.

Es ist schnell ein­zu­se­hen, dass es die­se Voll­kom­men­heit in der Rea­li­tät mensch­li­chen Lebens nicht gibt. Irgend­wie lässt sich jeder Mensch zwi­schen den bei­den Polen “abso­lu­te Gesund­heit” und “abso­lu­te Krank­heit” (= Tod) ver­or­ten. Der Medi­zin­so­zio­lo­ge Aaron Anto­novs­ky schreibt: “Wir sind alle sterb­lich. Eben­so sind wir alle, solan­ge noch ein Hauch von Leben in uns ist, in einem gewis­sen Aus­maß gesund.”

Den­noch besteht eine gro­ße Sehn­sucht nach voll­stän­di­ger Gesund­heit und wir sind bei aller ratio­na­len Ver­nunft kaum bereit, Abstri­che von die­ser Sehn­sucht zu machen. Es scheint gera­de bezo­gen auf Gesund­heit schwer aus­halt­bar zu sein, unse­re Unvoll­kom­men­heit zu akzep­tie­ren. Gesund­heit gewinnt in unse­rer Zeit, in der die reli­giö­sen Bin­dungs­kräf­te nach­las­sen, eine qua­si reli­giö­se Bedeu­tung. Wenn kei­ne Ent­schä­di­gung für das irdi­sche Leid im Jen­seits erwar­tet wer­den kann, muss das Leid mit allen Mit­teln bekämpft wer­den. Kein Wun­der also, dass die Gesund­heits­kos­ten immer schnel­ler stei­gen und jeder Ver­such, die­se zu begren­zen, schnell als unmensch­lich bezeich­net wird. Kein Wun­der, dass die Gurus der New Eco­no­my Visio­nen voll­kom­me­ner Gesund­heit ent­wi­ckeln und sie mit ihrem Geld umset­zen wollen.

Das zen­tra­le Pro­blem ist jedoch, dass sol­che Vor­ha­ben nicht gelin­gen kön­nen. Gesund­heit im abso­lu­ten Sinn ist auch für die moderns­te Medi­zin nie erreich­bar. Das bedeu­tet nicht, dass es kei­nen medi­zi­ni­schen Fort­schritt mehr geben soll­te. Aber es bedeu­tet, sich mit der Tat­sa­che der eige­nen Unvoll­kom­men­heit abzu­fin­den und in die­ser schmerz­li­chen Erkennt­nis sein Leben zu gestal­ten — und das gera­de auch in dem Wis­sen, dass es weder im Leben noch im Tod eine Ent­schä­di­gung für das Leid gibt.

Das ist das Plä­doy­er des Buchs »Ist Gott noch zu retten?«.

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Mat­thi­as Stieh­ler
Ist Gott noch zu ret­ten?
Wor­an wir glau­ben können

Ver­lag tre­di­ti­on Ham­burg 2016

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