Dr. Matthias Stiehler

Hör nicht einfach nur auf deine Gefühle

Sie können dich täuschen

Eine Frau steht kurz vor ihrer Hoch­zeit. Es sind nur noch ein paar Wochen bis dahin. Da ver­liebt sie sich in einen ande­ren. “Ich habe das nicht gewollt. Bis ich den neu­en Mann getrof­fen habe, war ich fest ent­schlos­sen, mei­nen Mann zu hei­ra­ten. Nun aber weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich den­ke einer­seits, dass es nicht rich­tig ist, mei­nen Mann zu ver­las­sen. Wir sind ja schon eine Wei­le zusam­men und haben uns jetzt sogar eine Eigen­tums­woh­nung gekauft. Wir sind also ziem­lich ver­schul­det und auch schon so anein­an­der gebun­den. Aber ich woll­te die Hoch­zeit auch immer. Viel­leicht nicht so sehr, wie mein Mann. Aber ich war nie dage­gen. Doch ande­rer­seits bin ich in den neu­en Mann ziem­lich ver­liebt. Wir pas­sen so wun­der­bar zusam­men. Es ist so, als wür­de mir das Schick­sal einen Wink geben. Wenn ich die­sen Mann sehe, könn­te ich sofort die Hoch­zeit absa­gen und mich auf die neue Bezie­hung ein­las­sen. Ich fra­ge mich, ob ich nicht etwas ver­schen­ke, wenn ich es nicht tue.”

Als Bera­ter fra­ge ich mich, wie ich mit den bei­den Män­nern spre­chen würde:

Den Mann, der die Frau hei­ra­ten möch­te, wür­de ich fra­gen, ob er sie wirk­lich und zu dem jet­zi­gen Zeit­punkt hei­ra­ten möch­te. Wür­de er sich wirk­lich auf die­ses Wag­nis ein­las­sen. Kann er — zumin­dest zum jet­zi­gen Zeit­punkt — sicher sein, dass sei­ne Frau, selbst wenn sie ihn jetzt hei­ra­tet, nicht immer dann, wenn es mal schwie­rig wird, der ver­pass­ten Chan­ce nach­trau­ert? Bestimmt könn­te er um die Frau kämp­fen, wenn er sie nicht las­sen möch­te. Aber das müss­te er tun, bevor sie heiraten.

Dem neu­en Mann wür­de ich ver­mut­lich dazu raten, die Kon­tak­te zu der Frau abzu­bre­chen. Denn es gibt einen deut­li­chen Grund, sich nicht auf sie ein­zu­las­sen. Bezie­hun­gen fan­gen fast immer mit dem Ver­liebt­sein an. Das ist aber noch nicht die wirk­li­che Bezie­hung. Die­se beginnt erst dann, wenn das Ver­liebt­sein ver­flo­gen ist und die Part­ner begin­nen, sich rea­lis­tisch wahr­zu­neh­men und auf die­ser Grund­la­ge die Bezie­hung zu füh­ren. Dann steht die Fra­ge, ob man die­se “Arbeit” auf sich nimmt oder doch lie­ber eige­ne Wege geht. Wenn sich jetzt aber die Frau wegen ihm trennt, dann ste­hen sie bei­de unter Erfolgs­druck. Darf es dann wirk­lich noch schief­ge­hen? Das ist wahr­lich kei­ne gute Vor­aus­set­zung für eine neue Partnerschaft.

Pro­ble­ma­tisch könn­te für die­se Bezie­hung aber auch sein, dass die Grün­de des Ver­liebt­seins höchst­wahr­schein­lich in der Aus­gangs­si­tua­ti­on der Frau lie­gen. Was ist, wenn “das Schick­sal” ihr nur des­we­gen einen neu­en, “so tol­len” Mann vor­bei­schickt, weil sie in der Tie­fe Angst vor der Ehe­ent­schei­dung hat? Es könn­te sein, dass die bis­he­ri­ge Bezie­hung viel kon­flikt­haf­ter ist, als sie es sich bis dahin ein­ge­stan­den hat. Eben­so könn­te es sein, dass die Frau die dro­hen­de Ver­bind­lich­keit und Nähe zu ihrem zukünf­ti­gen Ehe­mann fürchtet.

Ich glau­be jeden­falls an kein “zufäl­li­ges Ver­liebt­sein”. Das ist kein Schick­sal, son­dern macht Sinn für das eige­ne Leben. Es geht bei solch einem Gesche­hen fast immer um die bestehen­de Bezie­hung. Die ver­meint­lich neue und so strah­lend erschei­nen­de ist meist nur ein Instru­ment der alten. Des­halb soll­te die neue Bezie­hung s chnellst­mög­lich gelas­sen werden.

Ein sinn­vol­ler Weg für die Frau kann nur sein, sich über ihre Situa­ti­on Klar­heit zu ver­schaf­fen: Will sie mit all ihren Ängs­ten und Befürch­tun­gen hei­ra­ten — wis­send, dass kein Mann ihr das unge­trüb­te Glück brin­gen wird? Oder scheut sie die­sen Schritt — viel­leicht, weil es dafür gute Grün­de gibt? In jedem Fall aber soll­te sie den neu­en Mann nicht für die­se Ent­schei­dung miss­brau­chen. Das ist kei­ne gute Grund­la­ge für eine neue Partnerschaft.

Das mag nüch­tern klin­gen, für manch einen zu nüch­tern. “Die Gefüh­le spre­chen doch eine ande­re Spra­che.”, wird dann oft gesagt. Aber im Fall unse­rer Sehn­süch­te gilt: Sie kön­nen uns aufs Glatt­eis füh­ren. Und Illu­sio­nen ver­der­ben das Leben. Sie gau­keln ein Glück vor, dass es nicht gibt und schaf­fen am Ende mehr Leid. Das gilt für die Part­ner­schaft eben­so wie für den Glau­ben. Es geht um eine Reli­gi­on ohne Illu­sio­nen (so der Titel des 2. Teils des Buchs »Ist Gott noch zu retten?«).

Mat­thi­as Stieh­ler
Ist Gott noch zu ret­ten?
Wor­an wir glau­ben können

Ver­lag tre­di­ti­on Ham­burg 2016

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