Ich sterbe, also bin ich (Morior ergo sum)
Vortrag auf den “Choriner Tagen” 2016
Ich wurde am 2. Mai 1961 geboren und wusste bereits an diesem Tag, was Tod ist. Die Gebärmutter, in der ich heranwuchs, war bereits von Tod, Sterben und Lebensbedrohung durchdrungen. Ein Bruder, der 1951 auf die Welt kommen sollte, starb als Fötus. Fast wäre meine Mutter an dem toten Kind in ihr mitgestorben. Meine Schwester Marina wurde dann am 28. Oktober 1952 geboren. Sie starb zwei Tage später.
Ich bekam zu meinem 45. Geburtstag eher zufällig zwei Holzfiguren aus Togo geschenkt. Dies ist ein afrikanisches Land mit einer hohen Kindersterblichkeit. Solche Holzfiguren werden dort im Haus der Familie aufgestellt und erinnern an die toten Kinder. Seit dieser Zeit stehen diese beiden Holzfiguren für meine beiden toten Geschwister. Ich halte sie in Ehren, denke an sie und lasse sie so Anteil an meinem Leben haben. Denn so wie ich meine Eltern einschätze, hätten sie nie mehr als zwei Kinder gewollt. Ich glaube daher, dass ich als Viertgeborener keine Chance gehabt hätte. Dass ich lebe, hat also auch mit dem Tod meiner beiden Geschwister zu tun.
Vor mir wurde dann noch meine zweite Schwester geboren, die unmittelbar nach ihrer Geburt blau anlief und mehrere Wochen im Brutkasten verbringen musste. Heute lebt die einst kluge und erfolgreiche Architektin als Erwerbsunfähigkeitsrentnerin allein in der Nähe eines Psychiatriekrankenhauses, damit sie im Falle eines nächsten Schizophrenieschubs schnelle und vertraute Hilfe bekommt.
Ich selbst war der erste in meiner Geschwisterreihe, bei dem die Geburt halbwegs glatt verlief. Erst nach einem Monat kam ich für vier Wochen ins Krankenhaus, weil ich — so die Erzählung meiner Mutter — unaufhörlich wimmerte. Mir wurde später erzählt, dass trotz Rückenmarkspunktion nicht wirklich herausgefunden wurde, was mir fehlte. Mein Versuch, nach mehr als vierzig Jahren die Krankenakte einzusehen, schlug fehl. Jedenfalls überlebte ich.
Ich bin also seit meiner Geburt mit dem Tod vertraut und er war auch ständiger Begleiter meines weiteren Lebens — und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen kann ich mich an keine Zeit erinnern, in der ich keine Angst vor dem Tod hatte. Als mir bewusstwurde, dass ich wie jeder Mensch einmal sterben werde, hat mich die Unausweichlichkeit dieser Tatsache gepackt und in Panik versetzt. Ich entsinne mich, dass ich mir bereits als Kindergartenkind vorzustellen versuchte, wie es ist, zu sterben und tot zu sein. Die einzige Antwort, die ich mir geben konnte, war, dass es so wie das Einschlafen ist. Fortan konnte ich oft nur schwer einschlafen.
Irgendwann ging meine Mutter mit mir deswegen sogar zu einer Kinderärztin. Ich muss so zwischen 8 und 10 Jahre alt gewesen sein. Doch ich traf mit meinen Ängsten auch hier auf kein Verständnis. Stattdessen verschrieb die Ärztin das Beruhigungsmittel Faustan. Auch zu meinem Vater konnte ich nicht gehen. Der hat Fragen nach dem Tod immer weggewischt. Später, als ich meine ersten Therapieerfahrungen machte, erkannte ich, dass er selbst so viel Angst vor dem Tod hatte, dies aber vor seinem Sohn nicht zugeben konnte.
Es gab aber neben der Angst vor dem Tod noch eine weitere Ebene, die ich als Kind nicht so bewusst hätte benennen können, die dennoch irgendwie immer mitschwang. Es war so ein finster-entschlossenes “Dennoch”. Vielleicht sollte ich es besser als ein sehnsüchtiges “Dennoch” bezeichnen. Denn auf jeden Fall war ich trotz meiner Todesangst immer auch lebenshungrig. Ich habe trotz meines traurigen Grundtones immer viel gelacht, Sport war meine Leidenschaft und verstehen wollte ich die Welt soundso.
Damals habe ich das als ein Albtraum empfunden, denn ich hatte über Monate ein schlechtes Gewissen, wenn ich nur an den Traum dachte. Jedenfalls habe ich ihn damals niemandem erzählt. Heute weiß ich, dass sich in diesem Traum meine Wut auf meine Eltern äußerte. Ich habe mich symbolisch aus ihren Klauen befreit, die im Zusammenhang unseres Themas “Bedrohung” eben auch bedeuteten, dass sie mir mit ihren Ängsten, die sie einerseits vor mir geheim hielten und andererseits im Alltag ungebremst über mir ausschütteten, die Luft nahmen. Und obwohl ich mich damals als Kind noch nicht wirklich von ihnen befreien konnte, sehe ich heute diesen Traum als einen ersten Schritt dahin.
Neben meiner Angst vor dem Tod, mit der ich so allein war und die mich oftmals beim Einschlafen lähmte, habe ich von Anfang an gelernt, um mein Leben zu kämpfen. Die Urgeschichte dieses Kampfes war mein Krankenhausaufenthalt im Alter von einem Monat. Hier stand ich der Todesbedrohung, vor allem aber dem Leben allein gegenüber. Trotz dieser Verlassenheit habe ich damals gelernt, mich nicht unterkriegen zu lassen. Mein Lebenswillen siegte.
Ich kann also sagen, dass ich in keiner sehr geborgenen Welt Aufnahme fand. Mein Leben war von Beginn an bedroht. Und zugleich aber berührt es mich sehr und bin ich stolz, dass ich mich davon nicht habe töten lassen. Ich habe überlebt und gelernt, um mein Leben zu ringen. Etwas pathetisch ließe sich sagen, dass ich in meinem Leben durch das Feuer des Todes gestählt wurde. Aber das ist eine unpassende Aussage für den Überlebenskampf eines Babys und passt auch nicht wirklich zu mir.
Was mich bis heute prägt, ist auch und gerade die Auseinandersetzung mit dem Tod. Wenn Walter Benjamin sagte, dass die Verdrängung des Todes die Hauptcharakteristik des Kapitalismus ist, dann bin ich ein entschiedener Antikapitalist. Denn ich lebe auch mein erwachsenes Leben immer in der Gewissheit meines unabwendbaren Todes. Natürlich nicht in jeder Minute, nicht an jedem Tag, aber dennoch immer wieder und in einer ständigen, grundlegenden Gewissheit.
Was für ein Zufall, dass ich in einer Gemeinde Pfarrer wurde, in der verhältnismäßig viele Menschen starben. In den zweieinhalb Jahren waren es mehr als einhundert Beerdigungen, die ich durchführte. Dabei konnte ich die Trauer, den Schmerz und die Ängste der Angehörigen meist sehr gut mitempfinden. Und ich konnte dennoch die Größe des Lebens und die Erhabenheit des Todes vermitteln.
Danach wechselte ich in eine Beratungsstelle, die eine todbringende Krankheit zum Thema hat. Ich konnte als Berater immer diejenigen sehr gut verstehen, die Todesangst haben. Zugleich aber ließ ich mich nicht von deren Ängsten lähmen. Meine Haltung ist stets, dass um das Ringen nach echtem Leben geht, gerade weil wir sterblich sind. Das ist der Sinn meines Vortragstitels: Morior ergo sum. Ich sterbe, also bin ich.
Ich habe sogar mal ein Makro programmiert, das mir jedes Mal, wenn ich auf dem Computer das Schreibprogramm öffnete, mir die Tage bis zu meinem 75. Geburtstag anzeigte. Zugegeben, eine recht radikale Art, die für meine Frau nicht immer nur einfach mitzutragen war und ist.
Jetzt stehe ich als 55-jähriger Mann hier, bin traurig und freudig, ängstlich und mutig zugleich. Es gibt immer noch die Nächte, in denen ich nach einem ganz kurzen, vielleicht zehnminütigen Schlaf aufwache und mich wie aus dem Nichts die Unausweichlichkeit meines Todes in Panik versetzt. In diesen Situationen meldet sich mein frühes Schicksal mit voller Wucht.
Dabei bin ich natürlich überzeugt, dass die Todesangst in sich, also auch jenseits früher Bedrohungserlebnisse, ängstigend ist. Das Wissen um den eigenen Tod, der uns Menschen charakterisiert, ist eine beunruhigende Tatsache. Es ist nicht möglich, sein eigenes Sterben zu erleben und dabei fröhlich weiter zu singen — wie es Woddy Allan einmal ausdrückte. Im ältesten erhaltenen Buch der Welt, dem Gilgamesch-Epos, wird bereits die Unausweichlichkeit des Todes und die Angst davor thematisiert.
Dennoch erlebe ich mittlerweile auch eine ganz andere Haltung gegenüber dem Tod. Es sind drei positive Aspekte, die ich in der Tatsache meines Todes sehe:
Als erstes weiß ich, dass mein Tod meine Lebenszeit wertvoll, einmalig und vor allem lebendig macht. Ein unendliches Universum ist ein totes Universum, ein unendliches Leben ist ein belangloses Leben.
Als zweites sehe ich in meinem sicheren Tod einen Auftrag an mein Leben. Es gilt, die mir verbliebene Zeit zu nutzen, das Leben zu genießen und zugleich in der Welt meine Spuren zu hinterlassen. Vivo ergo sum. Ich lebe, also bin ich.
Der dritte positive Aspekt des Todes ist die in ihm enthaltene Gnade. Wenn ich manches Mal den Irrsinn unserer Welt erlebe, sowohl den globalen als auch den, mit dem ich in meinem tagtäglichen Leben konfrontiert bin, dann bin ich auch froh, dass das nicht unendlich so weitergeht.
Vor allem aber findet auch mein frühes Schicksal, also beispielsweise die in meine Seele eingegrabenen Ängste, durch den Tod eine Begrenzung. Das ist ein Trost, mit dem ich erstmals in Hermann Hesses “Steppenwolf” Bekanntschaft machte. Ich zitiere: “Mochte ihm (der Hauptfigur Harry Haller) nun geschehen, was da wollte, mochte er krank werden, verarmen, Leid und Bitternis erfahren — alles war befristet, alles konnte allerhöchstens nur diese wenigen Jahre, Monate, Tage andauern, deren Zahl täglich kleiner wurde!” Der Tod beendet das Leiden, dessen kann ich auch in Situationen großer Not gewiss sein.
Mir ist die Janusköpfigkeit dieses Trostes durchaus bewusst. Hesses “Steppenwolf” versinkt dann auch ein wenig zu sehr im Weltschmerz. Dennoch hilft mir das Wissen um meinen Tod manchmal, wenn ich an dieser Welt verzweifle.
Wert, Auftrag und Gnade findet mein Leben in der Tatsache seiner unausweichlichen Begrenzung durch den Tod. Das bedeutet nicht, dass meine Ängste und vor allem meine frühe Verzweiflung einfach weg wären. Dennoch ist der Tod eben auch nicht nur die dunkle Macht, die unserem Leben entgegensteht. Ob wir ihn wollen oder nicht, ob wir ihn gut finden oder nicht — ohne den Tod gibt es kein Leben. Morior ergo sum!
Matthias Stiehler
Ist Gott noch zu retten?
Woran wir glauben können
Verlag tredition Hamburg 2016