“Losing My Religion”
Vortrag auf den Choriner Tagen 2017
Zunächst setze ich mich in meinem Vortrag mit der Tatsache auseinander, dass ich — wie jeder andere Mensch — Verletzungen, Defizite und Ungerechtigkeiten in meiner Seele trage, die zwar identifizierbar, aber nicht wirklich änderbar sind. Ich kann die Ursachen meiner Verletzungen im konkreten Geschehen erkennen (das ist meine frühe Geschichte), aber mir ist es nicht möglich, diese Verletzungen zu heilen. Sie wirken, obwohl ich keine Schuld an ihnen trage, im weiteren Leben fort und behindern mich beziehungsweise ermöglichen mir nicht das Leben, das ich mir ersehne. Es gibt in diesem Leben kein Heil und keine Gerechtigkeit (auch wenn manches vielleicht etwas heiler und etwas gerechter gestaltet werden kann). Wer etwas anderes behauptet, macht sich und anderen Menschen etwas vor — vielleicht weil die Wahrheit als zu schmerzhaft empfunden wird.
Ich schildere zu Beginn meines Vortrags ein Beispiel meines Lebens, das aber so persönlich ist und auch andere Menschen benennt, dass ich es nicht öffentlich darstellen möchte. Dieser Text beginnt daher mit dem zweiten Teil des Vortrags, in dem es um die religiöse Dimension der benannten Lebenstatsache geht:
Den Weg, mit diesem Loch in meiner Seele umzugehen, kenne ich und gehe ihn auch immer wieder. Ich kann mir die Ursprünge deutlich machen, ich kann darüber wütend sein, ich kann heulen. Aus dieser Arbeit erwächst die Erkenntnis, dass mein erwachsenes Leben nicht so schwarz-weiß ist, wie ich es manchmal empfinde. Ich habe vermutlich den Erfolg, den ich verkrafte. Noch mehr Anfragen zu Vorträgen oder Lesungen kann ich rein zeitlich gar nicht bedienen. Zudem weiß ich, dass keine Anerkennung dieser Welt meine frühen Wunden heilen kann. Dennoch bin ich wieder und wieder mit diesem Loch in meiner Seele konfrontiert. Und das schmerzt auch wieder und wieder. Und wenn ich diese Tatsache mit meinem Glauben konfrontiere, nämlich, dass mir ein deutlich schmerzfreieres Leben versprochen wurde, dann werde ich nicht nur auf meine Eltern wütend, sondern auch auf Gott. Warum hat der mir das so eingebrockt? Er hätte mir doch zumindest bessere Eltern geben können .
Es gibt einen schönen Ausdruck aus den US-amerikanischen Südstaaten, der dann gebraucht wird, wenn die Leute die Nase voll haben. Er lautet: “Losing My Religion”, wörtlich übersetzt: “Meine Religion geht verloren”. Man kann es auch etwas profaner mit “Ich fahre aus der Haut!” wiedergeben. Oder vielleicht noch besser: “Ich verliere die Fassung.” Der Bezug der englischen Originalfassung zur Religion gefällt mir als Theologen natürlich sehr gut. Denn was ist das für eine Welt, die diese Unerlöstheit für mich bereithält? Was ist das für ein Gott, der eine schmerzende Welt erschaffen hat? Und natürlich weiß ich, dass ich mich noch auf der Sonnenseite befinde. Täglich höre ich von getöteten Kindern, die nicht einmal die Chance hatten, gute Augenblicke zu erleben. Ich möchte mich mit den noch schlimmeren Schicksalen aber auch nicht trösten. Denn ich trage eine verletzte, schmerzende Seele in mir.
“Mir geht meine Religion verloren.” Das sollte nach meiner tiefen Überzeugung die zentrale theologische Aussage in der heutigen Zeit sein.
Das, was uns Jahrhunderte lang von den Kirchen vorgemacht wurde, dass Gott es letztlich doch richten und unsere Welt gut machen wird, können wir getrost vergessen. Dorothee Sölle sagte einmal zurecht: “Kein Himmel kann so etwas wie Auschwitz wiedergutmachen.” Und dass die Welt im irdischen Sinn einmal besser wird — also nicht nur punktuell, sondern wirklich besser — das glauben doch nicht einmal mehr die Stalinisten.
Unsere Welt wird nicht gut. Bei aller Sehnsucht, aus dem falschen Leben herauszukommen, wird genau das nicht eintreffen. Diese Anerkenntnis, die — wie gesagt — das zerstört, was uns seit Menschengedenken als Religion vorgemacht wurde, ermöglicht es dann aber auch, einen Schritt weiter zu gehen und aus der Verzweiflung herauszukommen. Aber es braucht eben erst einmal diese Anerkenntnis: Zu hoffen, dass sich das Versprechen des Lebens erfüllt — und in dieser Hoffnung zu scheitern. Das eröffnet wahrhaftiges Leben. Zunächst im Schmerz und dann in der Befreiung, die darin liegt, von illusorischen Hoffnungen zu lassen. Deshalb behaupte ich, dass die wahre Erlösung in der Erkenntnis und vor allem in der tiefen Anerkenntnis besteht, dass es keine Erlösung gibt. In dieser Anerkenntnis findet unser Leben Tiefe. Es ist der Weg zum wahrhaftigen Leben, einem Leben, das zuallererst weh tut.
Dabei gibt es neben den konkreten, mit den ganz unmittelbar erfahrenen Bedrohungen, Verletzungen, Manipulationen zusammenhängenden Schmerzen etwas, was ich als spirituellen Schmerz bezeichnen möchte. Es ist die Tatsache, dass all die Verletzungen nie vorbeigehen, dass es keine Gerechtigkeit und schon gar keine Heilung gibt. Wir werden für unsere Entfremdung vom Leben, für all das, was uns unverschuldet angetan wurde und für all das, was uns in der Folge nicht gelingt, wir werden für all die Seelenschmerzen nicht entlohnt.
Verrückterweise liegt für mich in dieser Tatsache sogar ein Trost. Denn sie zeigt mir, dass es darauf also nicht ankommen darf. Worauf es vielmehr ankommt ist, das Leben als solches anzunehmen — und zwar so, wie es ist. Mit all meinen eben auch vorhandenen Begrenzungen, und dem, was ich vermag.
Es geht um ein Leben im Anstand, der darin liegt, das Leiden nicht wegzureden, nicht wegzutun, nicht wegzuhoffen. Darin fühle ich mich dann Gott nah und ihm verbunden. Das ist keine Religion des pfäffischen Gewäschs, was aus den Kirchen quillt und kaum zu ertragen ist. Es ist eine Religion, die sich selbst verloren hat und aus dem Abschied von den falschen Illusionen unserer falschen Welt das Leben — unser schmerzhaft schönes Leben — feiert. Das geht nicht immer, nicht einmal sehr oft. Wenn wir zu viel wollten, wären unsere kleinen Herzen überfordert. Aber immer einmal unsere verletzte Gotteskindschaft zu feiern — dafür lohnt es.
Matthias Stiehler
Ist Gott noch zu retten?
Woran wir glauben können
Verlag tredition Hamburg 2016