Pegida — die Enttäuschungswut
Das Phänomen PEGIDA lässt sich auf verschiedene Weise verstehen. Mir fällt auf, dass die Teilnehmer überdurchschnittlich oft zu meiner soziologischen Gruppe gehören: männlich, über fünfzig und nicht so schlecht gestellt, dass die eigene soziale Not den Protest erklären würde (1,2). Zudem ist PEGIDA vor allem ein Ostdeutsches, ja ein Dresdner Thema. Und auch ich wurde vor 55 Jahren in der DDR geboren und lebe seit 23 Jahren in Dresden.
Es gibt aber noch eine weitere Gemeinsamkeit: Wir waren — ganz allgemein gesprochen, da ich damals in Leipzig lebte — während der friedlichen Revolution 1989 gemeinsam auf der Straße. Wir waren die Akteure der bisher einzigen erfolgreichen Revolution auf deutschem Boden. Und so stelle ich mir die Frage, wie es kommt, dass oft die gleichen Menschen nach mehr als 25 Jahren erneut auf die Straße gehen. Das hat offensichtlich viel mit Enttäuschungen zu tun.
Die Proteste in der DDR waren von der Hoffnung getragen, dass es ein besseres Leben geben kann. Wir hatten dieses vermeintlich bessere Leben mit der Bundesrepublik unmittelbar vor Augen. Das betraf sowohl den materiellen Wohlstand als auch die politischen Freiheiten. Damit bekam der Protest eine positive Zielrichtung, die von Seiten des Westens bestätigt wurde. Noch heute brüstet sich die bundesdeutsche Politik mit der Überlegenheit des eigenen Systems gegenüber dem real existiert habenden Sozialismus. Zu kurz kam dabei jedoch die kritische Selbstreflexion — weniger in Einzelfragen, mehr im fundamentalen Sinn: Auch das Leben in der alten Bundesrepublik und jetzt im wiedervereinten Deutschland macht nicht wirklich glücklich. Der Hunger der Seelen lässt sich auch nicht durch einen Systemwechsel stillen. Die Illusion der friedlichen Revolution in der DDR war aber, dass wir genau darauf hofften. Und die Illusion des Westens war, dass er vermutlich selbst glaubte, uns eine bessere Welt zu eröffnen. Warum sonst gab es keine Wiedervereinigung, sondern einen Anschluss? Mit den Konsequenzen müssen wir heute leben.
Die Enttäuschungswut der PEGIDA-Demonstranten ist die Folge der beiderseitigen Illusion von damals. Es ist daher kein Zufall, dass sie sich nun gegen die richtet, die jetzt mit der gleichen Hoffnung in unser Land kommen: die Flüchtlinge. Auch hier können wir davon ausgehen, dass sich jenseits von Sicherheit und materiellem Wohlstand die Hoffnung dieser Menschen auf ein wirklich besseres Leben nicht erfüllen wird. Wir werden auch ihre Enttäuschungswut erfahren — und sei es erst in der nachfolgenden Generation.
Aus einer Predigt, die ich als Vikar am 27. August 1989 in der Marienkirche Leipzig-Stötteritz gehalten habe:
”… Mit christlichen Worten kann man fragen: Ist das, was uns hier in diesem Land [der DDR] geboten wird, wirklich das, was Gott uns verheißen hat? Leben wir sinnvoll, leben wir glücklich, leben wir als Gottes freie Kinder? Und ich kann diese Frage nicht bejahen.
…
Und doch müssen wir noch weiter fragen: Ist die BRD wirklich besser? Ist sie wirklich das Land, in dem Menschen glücklich werden können — ganz anders als in der DDR? Herrscht dort wirklich mehr Freiheit oder sehen die Zwänge nur anders aus?
Wenn ich mich mit anderen über die bundesdeutsche Gesellschaft unterhalte, dann komme ich zu dem Eindruck, der große Vorteil wird darin gesehen, dass dort das Leben leichter ist. Hier muss man so lange auf die Autoreparatur warten, dort geschieht es sofort. Die Züge sind pünktlicher, es gibt genügend Gaststätten, in denen das Essen auch noch besser ist. Man muss nicht anstehen und und und
Es stimmt: Das Leben in der BRD ist wirklich leichter. — Aber ist es dadurch besser? …” (3)
Das Buch »Ist Gott noch zu retten?« setzt sich mit den Hoffnungen auf ein besseres Leben und eine bessere Welt auseinander und entlarvt sie letztlich als Illusion. Es zeigt, wie wir dennoch zu einem sinnerfüllten und irgendwie auch glücklichen Leben kommen können.
(1) Hans Vorländer, Maik Herold, Steven Schäller: Wer geht zu PEGIDA und warum? Eine empirische Untersuchung von PEGIDA-Demonstranten in Dresden. Dresden 2015 https://tu-dresden.de/die_tu_dresden/fakultaeten/philosophische_fakultaet/ ifpw/poltheo/news/vorlaender_herold_schaeller_pegida_studie
(2) https://www.spiegel.de/politik/deutschland/pegida-wer-geht-zu-den-demos-und-warum-gehen-sie-auf-die-strasse-a-1074028.html
(3) Predigt vom 27.8.1989 Leipzig-Stoetteritz
Matthias Stiehler
Ist Gott noch zu retten?
Woran wir glauben können
Verlag tredition Hamburg 2016