Rassismus — wie betroffen sind Sie?
Clemens Tönnies, Schalkes Aufsichtsratschef, hat bei einer Rede im Juli 2019 etwas richtig Blödes gesagt. Zitat tagesschau.de: »Tönnies hatte beim Tag des Handwerks in Paderborn als Festredner gesprochen. Dabei kritisierte er Steuererhöhungen im Kampf gegen den Klimawandel. Stattdessen solle man lieber jährlich 20 Kraftwerke in Afrika finanzieren. “Dann würden die Afrikaner aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn’s dunkel ist, Kinder zu produzieren”, sagte Tönnies.« Solche Aussagen sind wirklich bekloppt und — freundlich gesagt — wenig intelligent.
Aber was mir zugleich auffällt, ist der Furor, mit dem massenhaft auf diese Aussage Tönnies reagiert wird. Seit mehreren Tagen ist dies die Schlagzeile Nummer Eins und so gut wie jeder, der sich ob als Journalist oder Vertreter einer Institution oder als Experte zu Wort meldet, bemüht sich, noch deutlicher als die Vorredner Tönnies‘ Auslassung zu verurteilen. Das geschieht mit solcher Vehemenz, dass ich misstrauisch werde. Wollen die Verurteiler mit ihrer allzu wohlfeilen Kritik vielleicht etwas verbergen?
Wir kennen das gruppendynamische Phänomen des „Omega“. Omega ist der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets und bezeichnet in Gruppen denjenigen, der in der Hierarchie ganz hinten steht. Oft wird das Omega von den anderen Gruppenmitgliedern ausgegrenzt oder gar gemobbt. Ursache ist meist ein Verhalten, das alle als anderen schlimm und verurteilenswert empfinden.
Gruppendynamisch interessant ist, dass das Omega dann von den anderen besonders verurteilt wird, wenn es mit seinem Verhalten etwas ausdrückt, was der Gruppe insgesamt immanent ist. Das Omega hält der Gruppe unbewusst den Spiegel vor, indem er eine abgelehnte Eigenschaft aller oder ein mehr oder weniger von allen praktiziertes, jedoch zugleich von der Gruppe ‚eigentlich‘ abgelehntes Verhalten am deutlichsten zum Ausdruck bringt. Indem sich die Gruppe auf das Omega stürzt, es verurteilt, ausgrenzt und mobbt, versuchen sich die Gruppenmitglieder von ihren eigenen Anteilen an diesem Verhalten zu „säubern“. Wir können sogar davon ausgehen, dass diejenigen, die das Omega am lautesten verurteilen, mit ihrem Verhalten dem Omega am nächsten stehen. Indem man sich vom Omega deutlich abgrenzt, möchte man sich auch von der eigenen Schuld reinwaschen. Man nennt das nach einem Bericht aus der Bibel den „Sündenbockmechanismus“ (Lev 16, 5 — 21).
Was also ist es, was Tönnies mit seiner Aussage sehr deutlich ausdrückt, aber was uns als gegenwärtiger deutscher Gesellschaft gerade besonders kennzeichnet?
Mit Rassismus müssen wir nicht nur herabwürdigendes Sprechen bezeichnen, sondern all das Denken, die Meinungen und Haltungen, mit denen wir glauben, besser als andere zu sein. Und dem begegnen wir derzeit an jeder Ecke unserer Gesellschaft — egal auch welche politische Seite angeschaut wird. Also nicht nur bei denen, die sich offen rassistisch äußern, sondern auch und gerade bei denen, die überzeugt sind, dass ihre Haltung die richtige, die gute ist. Momentan gibt es mir zu viele Menschen die zu genau wissen, was richtig ist. Die Selbstsicherheit der Kritiker von Orban, Trump und Salvini und die plumpen Witze der Kabarettisten sollen nichts anderes bewirken als gegenseitige Schulterklopfen zum Zwecke der Bestätigung, man sei doch nicht so schlimm wie die anderen. Dieser Populismus, dieses Pharisäertum ist mittlerweile kaum noch zu ertragen. Und es zerstört unsere Gesellschaft ebenso wie rechte Parolen, rechte Gewalt und dumpfer Rassismus.
Glaubt denn wirklich jemand allen Ernstes, er sei besser als Clemens Tönnies?
Matthias Stiehler
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Woran wir glauben können
Verlag tredition Hamburg 2016