Dr. Matthias Stiehler

Rassismus — wie betroffen sind Sie?

Cle­mens Tön­nies, Schal­kes Auf­sichts­rats­chef, hat bei einer Rede im Juli 2019 etwas rich­tig Blö­des gesagt. Zitat tagesschau.de: »Tön­nies hat­te beim Tag des Hand­werks in Pader­born als Fest­red­ner gespro­chen. Dabei kri­ti­sier­te er Steu­er­erhö­hun­gen im Kampf gegen den Kli­ma­wan­del. Statt­des­sen sol­le man lie­ber jähr­lich 20 Kraft­wer­ke in Afri­ka finan­zie­ren. “Dann wür­den die Afri­ka­ner auf­hö­ren, Bäu­me zu fäl­len, und sie hören auf, wenn’s dun­kel ist, Kin­der zu pro­du­zie­ren”, sag­te Tön­nies.« Sol­che Aus­sa­gen sind wirk­lich bekloppt und — freund­lich gesagt — wenig intelligent. 

Aber was mir zugleich auf­fällt, ist der Furor, mit dem mas­sen­haft auf die­se Aus­sa­ge Tön­nies reagiert wird. Seit meh­re­ren Tagen ist dies die Schlag­zei­le Num­mer Eins und so gut wie jeder, der sich ob als Jour­na­list oder Ver­tre­ter einer Insti­tu­ti­on oder als Exper­te zu Wort mel­det, bemüht sich, noch deut­li­cher als die Vor­red­ner Tön­nies‘ Aus­las­sung zu ver­ur­tei­len. Das geschieht mit sol­cher Vehe­menz, dass ich miss­trau­isch wer­de. Wol­len die Ver­ur­tei­ler mit ihrer all­zu wohl­fei­len Kri­tik viel­leicht etwas verbergen? 

Wir ken­nen das grup­pen­dy­na­mi­sche Phä­no­men des „Ome­ga“. Ome­ga ist der letz­te Buch­sta­be des grie­chi­schen Alpha­bets und bezeich­net in Grup­pen den­je­ni­gen, der in der Hier­ar­chie ganz hin­ten steht. Oft wird das Ome­ga von den ande­ren Grup­pen­mit­glie­dern aus­ge­grenzt oder gar gemobbt. Ursa­che ist meist ein Ver­hal­ten, das alle als ande­ren schlimm und ver­ur­tei­lens­wert empfinden. 

Grup­pen­dy­na­misch inter­es­sant ist, dass das Ome­ga dann von den ande­ren beson­ders ver­ur­teilt wird, wenn es mit sei­nem Ver­hal­ten etwas aus­drückt, was der Grup­pe ins­ge­samt imma­nent ist. Das Ome­ga hält der Grup­pe unbe­wusst den Spie­gel vor, indem er eine abge­lehn­te Eigen­schaft aller oder ein mehr oder weni­ger von allen prak­ti­zier­tes, jedoch zugleich von der Grup­pe ‚eigent­lich‘ abge­lehn­tes Ver­hal­ten am deut­lichs­ten zum Aus­druck bringt. Indem sich die Grup­pe auf das Ome­ga stürzt, es ver­ur­teilt, aus­grenzt und mobbt, ver­su­chen sich die Grup­pen­mit­glie­der von ihren eige­nen Antei­len an die­sem Ver­hal­ten zu „säu­bern“. Wir kön­nen sogar davon aus­ge­hen, dass die­je­ni­gen, die das Ome­ga am lau­tes­ten ver­ur­tei­len, mit ihrem Ver­hal­ten dem Ome­ga am nächs­ten ste­hen. Indem man sich vom Ome­ga deut­lich abgrenzt, möch­te man sich auch von der eige­nen Schuld rein­wa­schen. Man nennt das nach einem Bericht aus der Bibel den „Sün­den­bock­me­cha­nis­mus“ (Lev 16, 5 — 21). 

Was also ist es, was Tön­nies mit sei­ner Aus­sa­ge sehr deut­lich aus­drückt, aber was uns als gegen­wär­ti­ger deut­scher Gesell­schaft gera­de beson­ders kennzeichnet? 

Mit Ras­sis­mus müs­sen wir nicht nur her­ab­wür­di­gen­des Spre­chen bezeich­nen, son­dern all das Den­ken, die Mei­nun­gen und Hal­tun­gen, mit denen wir glau­ben, bes­ser als ande­re zu sein. Und dem begeg­nen wir der­zeit an jeder Ecke unse­rer Gesell­schaft — egal auch wel­che poli­ti­sche Sei­te ange­schaut wird. Also nicht nur bei denen, die sich offen ras­sis­tisch äußern, son­dern auch und gera­de bei denen, die über­zeugt sind, dass ihre Hal­tung die rich­ti­ge, die gute ist. Momen­tan gibt es mir zu vie­le Men­schen die zu genau wis­sen, was rich­tig ist. Die Selbst­si­cher­heit der Kri­ti­ker von Orban, Trump und Sal­vi­ni und die plum­pen Wit­ze der Kaba­ret­tis­ten sol­len nichts ande­res bewir­ken als gegen­sei­ti­ge Schul­ter­klop­fen zum Zwe­cke der Bestä­ti­gung, man sei doch nicht so schlimm wie die ande­ren. Die­ser Popu­lis­mus, die­ses Pha­ri­sä­er­tum ist mitt­ler­wei­le kaum noch zu ertra­gen. Und es zer­stört unse­re Gesell­schaft eben­so wie rech­te Paro­len, rech­te Gewalt und dump­fer Rassismus. 

Glaubt denn wirk­lich jemand allen Erns­tes, er sei bes­ser als Cle­mens Tönnies? 

Mat­thi­as Stieh­ler
Ist Gott noch zu ret­ten?
Wor­an wir glau­ben können

Ver­lag tre­di­ti­on Ham­burg 2016

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