Weihnachten ist wie Komasaufen
Es ist wieder Weihnachten, Heiligabend. Millionen Menschen strömen auch in unserem Land in die Kirchen — auf der Suche nach etwas, was sie in ihrem Leben allzu oft vermissen: Frieden, Liebe, Vertrauen in sich und die Welt. Und nun wird ihnen all das versprochen. “Der Erlöser ist da! Unsere Sehnsucht erfüllt sich!”
Das ist die Weihnachtsbotschaft: Die Sehnsucht nach einem heilen Leben wird nicht nur vor unsere Augen geführt, es wird deren Erfüllung proklamiert. “Gott bricht hinein in das Dunkel der Welt und bringt ihr sein Licht.” So und ähnlich tönt es von den Kanzeln. Und die Menschen strömen herbei, weil sie diese Sehnsucht auch in ihren Herzen tragen — und dabei ist es vielen sogar egal, ob sie an einen Gott glauben oder nicht.
Die erste Wahrheit von Weihnachten ist demnach, dass jeder Mensch die Sehnsucht nach einem heilen Leben in sich trägt. Viele befassen sich zwar damit das ganze Jahr nicht. Der Alltag verdeckt die Sehnsucht und auch den Schmerz über die Unerlöstheit unserer Welt und unserer Leben. Aber wenigstens dieses eine Mal im Jahr wird die Sehnsucht bei vielen Menschen wachgerüttelt. Deshalb diese Stimmung in der Vorweihnachtszeit, deshalb die Geschenkeflut, deshalb die Erwartung an ein “friedliches Fest im Schoße der Familie”. Und deshalb auch diese entschiedenen Weihnachtsverächter. Sie wehren sich gegen das Aufkommen der Sehnsucht auch in sich selbst.
Die Wahrheit, dass wir im Grunde alle die Sehnsucht nach einem heilen Leben in uns tragen, schließt aber auch die andere, die zweite Wahrheit von Weihnachten mit ein: Unsere Welt ist so ganz anders als es die Verheißung zeigt. Und auch das wird wieder und wieder von den Kanzeln gepredigt: Unsere Welt ist voller Kriege, Zerstörung und Terror. All die Friedensbemühungen, all die Initiativen zur Rettung unserer Welt bringen bestenfalls Momente des Durchatmens. Verändert hat sich der Zustand unserer Welt dadurch nie. Und auch unser ganz individuelles Leben ist bestenfalls von kurzen Momenten des Glücks durchdrungen. Ein wirklich heiles Leben — so wie wir es uns ersehnen — gibt es nicht.
Auch zu Weihnachten wird die Welt so beschrieben, wie sie ist. Und es wird an unserer Sehnsucht gerührt, dass es anders sein möge. So weit, so richtig.
Dann aber kippt die Botschaft der Kanzeln ins Lächerliche. Denn es wird die Erfüllung unserer Sehnsucht proklamiert. Was aber ist das anderes als ein Kinderglaube. Die Beschwörung all dessen, was wir NICHT erfahren? Es ist die absurde Hoffnung, dass durch Schönreden die Welt schön wird.
Natürlich lassen sich die Menschen in dem Moment des Gottesdienstes an Heiligabend durch die Beschwörungsformeln ansprechen. Man möchte es ja auch gern glauben. Und ein paar Minuten oder Stunden hält das Gefühl vielleicht sogar an. Aber Bestand hat es keinesfalls. Oft zeigt der Streit in den Familien zu Weihnacht ja bereits, dass die Realität schnell wieder in unser Leben hineinbricht.
Was Weihnachten regelmäßig vermieden wird, ist der Schmerz darüber, dass sich die Sehnsucht nach einem heilen Leben eben nicht erfüllt. Dieser Schmerz wird durch die Beschwörungsformeln der Kirchen verdeckt.
Und deshalb kommen die meisten Menschen auch nur einmal im Jahr in die Kirche. Es ist nicht viel anderes als Komasaufen. Wenn man wieder nüchtern wird, greift die Realität (die Wahrheit!) wieder voll zu und zeigt, was von den Versprechungen des Christentums übrig ist: nichts. Deshalb gilt es dann, die Sehnsucht nach echtem Leben wieder durch die Macht des Alltags zu überdecken. Denn der Schmerz der unerfüllten und unerfüllbaren Sehnsüchte soll weder in den Weihnachtsgottesdiensten noch im alltäglichen Leben gespürt werden. Ist angesichts dieser Koalition der Verleugnung und Verdrängung Gott eigentlich noch zu retten?
Matthias Stiehler
Ist Gott noch zu retten?
Woran wir glauben können
Verlag tredition Hamburg 2016